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Abermal, Kapitel 16, Seite 03

flackert


"Nimm endlich deine Finger weg!" forderte Gerd Wesseling jetzt unmissverständlich. "Ich kann mir was Schöneres vorstellen, als von dir am Sack begrabbelt zu werden. Kleiderschränke sind nicht unbedingt meine Vorliebe."

"Aber Baukräne, was? Weil die einen so schönen langen Dingens haben... hähä!" Unbeeindruckt drückte Heiner Pölten noch einmal Gerds Paket, dann ließ er anzüglich grinsend endlich ab. "Aber umgezogen hast du dich inzwischen. Ganz in schwarz geworfen! Trauerst um deine unbefriedigten Triebe, was?"

"Mensch, Heiner, manchmal kannst du einem wirklich auf den Sender gehen! Du redest einfach Scheiße!" wütete Gerd Wesseling und wies ihm einfach den Rücken.

Wenig beeindruckt klatschte Heiner Pölten Gerd Wesseling aufs stramme Hinterteil und lachte laut. "Schaut mal, Leute! Gerd macht jetzt einen auf schwarzen Mann, das Kinderschreckgespenst! Schuhuhu!"

"Halt endlich deine blöde Klappe!" Gerd Wesseling wurde ernstlich böse. Vor diesem Fleischberg brauchte er keine Furcht haben, sollte es tätliche Auseinandersetzung geben. Was der an Gewicht und Kraft aufbrachte, wog eigene Flinkheit und Gewandtheit lang hin auf.

"Meine Güte, kannst du keinen Spaß mehr verstehen?"

"Deine Späße sind oft nicht mehr lustig!"

"'tschuldigung! Reg' dich ab!" lenkte Heiner Pölten ein. Dessen Schrumpfhirn begriff, er läge daneben.

Freilich wusste jeder hier: Heiner ist kein schlechter Kerl! Weder bösartig, noch roh gewalttätig. Im Gegenteil. Als Schwergewichtsringer ein Ass seiner Sparte, fabelhafter Kamerad und verlässlicher Kumpel. Nur leider strunzdumm, weshalb er nicht einmal bei ähnlich unterbelichteten Frauenzimmern recht ankam. Er fand einfach keine. Was absehbar auch nicht änderte, blieb Heiner Pölten ungeschickt wie ein kleiner Junge, körperlich riesenhaft, bloß an gewissen Stellen nicht. Und dies konnte eigentlicher Grund sein. Obgleich, gemessen an anderen, bot er so schrecklich wenig nicht. Lediglich das Verhältnis geriet bei ihm aus dem Lot, ersichtlicher Brecher von unübersehbaren Ausmaßen. Letztes allein nutzt aber wenig. Nur als Ringer galt er sehr viel. - Vielleicht wollte er auch keine Frau? - Doch daran verschwendete man im Verein kaum Gedanken, solange nichts Schadendes ruchbar wurde und alles seinen 'normalen' Gang fand.

Gerd Wesseling sah einen jungen Ringerkameraden abseits an der Wand zwischen zwei Fenstern stehen: Rudolf Welzer! Älterer Bruder Herbert Welzers, den es Anfang April tragisch aus dem Leben riss.

Bis heute rätselten anscheinend alle, wie und weshalb er gestorben sein mochte. Niemand fand eine Erklärung. Auch die Ärzte nicht. Rudi wurde seitdem deutlich anders, stand meist wortkarg und verschlossen abseits. Entsprach nicht seinem Wesen vorher. Aber es gingen auch erst drei Monate ins Land, seitdem er und seine Familie herzzerreißend von Herbert Abschied nehmen mussten. Gerd erinnerte noch genau, wie Rudis leer brennende Augen ins frische Grab des kleinen Bruders starrten.

Dumpfes Nagen kam plötzlich in Gerd Wesseling auf. Von irgendwo hörte er unvermittelt Lachen, höhnisch, überlegen, voller Verachtung. Unverstandene Worte wehten nach. - Aber nein! Erstens konnte er nichts wirklich hören, und zweitens klangen Lachen und nachfolgende Stimme mitleidlos kalt, ohne jedes Gefühl. So lachte oder redete hier niemand! Hohn, Verachtung oder Überheblichkeit sind Ausgeburten mehr oder weniger verirrter Gefühle. Nach kurzem Schütteln verstummten vermeintliche Laute. Er sah wieder zu Rudolf Welzer.

Nein, Rudi vergoss damals keine Tränen, was es ihm ersichtlich noch viel schlimmer machte. Grau ausdruckslose Gesichtszüge. Alles darin erstorben, erstarrt und ausgelöscht, jede Freude mitsamt Sarg für immer begraben. Seither schien der neunzehnjährige Bursche wie ausgewechselt und nicht mehr derselbe. Manchmal machte er den Eindruck, er sei in drei Monaten um über zehn Jahre gealtert.

Über zehn Jahre nur? - Zeitweise erschien er gebeugt wie ein Greis ohne Falten und weißes Haar.

Überhaupt kleines Wunder, weshalb er heute noch im Sportlerheim weilte und so lange an der Feier teilnahm. Fast immer verschwand er nach gewisser Schamfrist irgendwann heimlich, wusste offenbar keine rechten Worte für andere, hörte meist nur schweigend zu. Schon seit Jahren in dessen Trainingsgruppe, kannte Gerd ihn gut, mochte Rudi sehr. Eigentlich schmucker Bursche, etwas bleichhäutig, wie alle Rotschöpfe, von bislang aufgeweckter Art und ausgewogener Figur eines Ringers im Mittelgewicht.

"Hallo Rudi!" sprach ihn Gerd Wesseling an. "Hätte gar nicht gedacht, dich noch hier zu sehen. Ist doch ganz schön, dass du noch hier bist, da können wir noch einen Schlag miteinander reden."

Rudolf Welzer sah ihn kommen, setzte verloren wirkendes Lächeln auf. "Hej, Gerd, guten Abend!"

"Du hast heute einen fabelhaften Kampf geliefert, mein Lieber. Gratuliere noch mal!"

"Danke dir, Gerd. Aber du hattest schon gratuliert. Gleich nach dem Kampf." Rudolf grinste unsicher aber sichtlich erfreut, fuhr dann fort: "Eigentlich will ich schon die ganze Zeit gehen. Aber irgendwer hat mich immer wieder aufgehalten, obwohl ich mich hier schon etwas langweile. Ich hab' einfach nicht den richtigen Draht heute."



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