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Abermal, Kapitel 04, Seite 05

flackert


"Ich verstehe nicht, was du meinst?"

"Nun, das lernst du auch noch mit den Jahren. Keine Sorge, Junge, du bist bestimmt nicht zu dumm dafür. Aber du meinst sicher mein Alter nach Geburtstagen, wie alle Leute. Ich bin vierundzwanzig."

"Ich dachte, vielleicht gerade mal zwanzig", staunte Erfried.

"Willst du mir jetzt schmeicheln, nachdem ich dir diese faulen Tricks mit dem Alter verraten habe?" grinste Ingomar.

"Nein. So dumm wäre ich nicht, das gleich so zu machen."

"War nur ein Scherz, Junge. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass du dermaßen schlicht gestrickt bist. Du bist ein heller Kopf, hast die Augen beginnenden Wissens. Und den hellen Kopf lass' dir auch nicht von hochtrabenden Besserwissern und redegewandten Vielschwätzern verdrehen. Auch nicht von solchen mit Doktortiteln, hörst du?"

Erfried nickte nur, angenehm angetan von guter Meinung des älteren Gesprächspartners. Es ging runter wie Butter. Ihm kam aber auch der Verdacht, ob sein Gegenüber nicht genau mit eben diesem Mittel selbst verfuhr und ihn damit einnehmen wollte? Einschmeicheln bei einem Zwölfjährigen? - Ach Quatsch! Welchen Grund sollte der denn haben? - Tja... welchen Grund könnte er haben... und welche Absicht stäke dahinter?

"Ich will mich mal eben ein bisschen waschen und umziehen", unterbrach Ingomar Erfrieds Überlegungen. "Wenn du noch etwas von der roten Brause haben willst, dann geh durch diese Tür da", er deutete zum offenen Durchlass ins Nachbarzimmer. "Das ist unser Esszimmer. Ich hab' die Brauseflasche auf dem Tisch abgestellt. Alles klar?" Er nickte und verschwand durch besagte Tür, verfolgt vom aufmerksamen Blick des Jungen.

Nun saß er allein im großen, düster daliegenden Wohnzimmer des Hauses Perchten, noch immer mit aller Gewalt umtobt von Gewitter mit Blitz, Donner, Hagel, Regen und reißendem Sturm. Alle Eindrücke erhöhten die Bannkraft des jüngeren Mannes auf ihn noch mehr. Mehr, als in der kleinen Bahnhofshalle aus unerfindlichem Grund schon geschehen. Dennoch spürte er auch bleibendes Unbehagen. Merkwürdiger Mann! Er wirkte so fremd, obgleich er andererseits ganz normaler Mensch sein musste. Eine Person, deren ureigene Art und Weise irgendwie viel menschlicher, echter wirkte, als fast alle Leute sonst in seinem gewohnten Lebensbereich. Doch dessen eigenartige Gegenfrage mit dem Alter, wo dieser nach unterschiedlichen Altersarten offenbar trennte...

So eine Frage hörte er noch nie von jemandem, konnte aber Ingomars Aussage bereits nachvollziehen, Frauen haben hinsichtlich ihres Alter besonderen Tick. Mama wies einst leise und verschmitzt lächelnd auf diesen Umstand hin, weil er einmal freimütig das zutreffend geschätzte Alter einer ihrer Bekannten äußerte, welche immer sehr großartig aufgemacht daherkam. Damals war er gerade zehn Jahre alt. Auch vernahm er von solcher Seite schon oft die Gegenfrage: "Na, schätzen sie doch mal!" anstatt einfach ihr wahres Alter nennen. Ihm kam solches immer sehr albern und lächerlich vor, machte auch jetzt keine Abstriche. Und nun stellte dieser Mensch mit dem langen Fingernagel verblüffend ungewöhnliche Gegenfrage.

Gerade trank er das Glas leer, hörte in kurzer Pause unablässig grollenden Donners die Tür zum Flur aufgehen. Sehen konnte er es nicht, sie lag entgegen eigener Blickrichtung. Noch immer saß er wie angeklebt auf dem ledernen Sofa an dessen breit wulstige Seitenlehne gedrängt. Langsam wagte Erfried eine Kopfwendung, erkannte Ingomars Gesicht. Vom Licht der Blitze bleich erhellt, nicht ganz so verschattet wie vorhin, wirkte es nur gering unheimlicher. Wieder geriet aufmunternd gemeintes Lächeln zur Grimasse. Erfried schauderte.

Ingomar blieb im weit ausladenden Türrahmen stehen. "Ich vergaß ganz, zu fragen, ob du dich auch ein bisschen waschen willst. Wenigstens deine Hände oder so. Du musst doch auch ganz schön verschwitzt sein von dieser Schwüle. Wäre bestimmt ganz gut, wie?"

Der Junge schwieg erst. Die Worte klangen ihm weniger nach gastfreundlicher Einladung, vielmehr dringliche Aufforderung. Er wollte seinen Platz nicht gern verlassen, womit er zumindest etwas vertrauter wurde, fürchtete fremde Tiefen des Hauses. Widerspruch wäre nicht angebracht, sagte ihm eine dumpfe Stimme unmissverständlich.

Was sollte er also tun? Die zweifelhafte Sicherheit des fremden großen Wohnzimmers verlassen, in den dunklen Flur folgen und von dort in weitere dunkle Räume unergründlichen Hauses? Mit diesem einigermaßen fremd und ungewohnt anmutenden jüngeren Mann? Hatte der vielleicht etwas mit ihm vor? War dessen Freundlichkeit nur vorgespielt, wollte in falscher Sicherheit wiegen? Was könnten dessen Beweggründe sein?

Abermals fühlte er jene Angst herankriechen, welche ihn gleich zu Anfang im Hausflur in schreckenden Sog riss. Erneut klaffte die dunkle Mundhöhle, woraus dieser klebrig peitschende Strom von Lautfolgen auf ihn niedersauste. Er schüttelte ängstigende Bedenken ab, stand umständlich vom Sofa auf und nickte zaghaft, schaffte nur unsicheres "Ja".

"Na, dann komm mit. Allein findest du das Badezimmer hier bestimmt nicht so schnell und landest womöglich im Kohlen- oder Kartoffelkeller. Dann müssten wir dir ein Vollbad einlassen und deine Sachen waschen, bevor du wieder auf die Menschheit losgelassen werden kannst. Wenn du möchtest, kannst du auch gern deine Eltern anrufen. Die machen sich vielleicht sonst Sorgen, wo du in diesem fürchterlichen Gewitter abgeblieben bist. Das Telefon steht im Arbeitszimmer. Ich zeig es dir."



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