"Sind sie sicher, dass ich das sagen soll, liebe Frau Gundeleit?"
Statt Antwort, nickte sie nur stumm, folgte endlich mehrfach einladender Geste des alten Arztes, nahm auf dem mit Leder überpolsterten Stuhl Platz. Den Besenstiel hielt sie fest, als sei er letzte Hoffnung in durchnässt hoffnungsloser Welt kleiner Stadt zwischen bewaldeten Bergen. Gefasst wartete sie ab.
"Die Augen... waren... nicht einfach nur blind", begann Dr. Wappler zögerlich, immer noch nicht sicher, ob er davon sprechen sollte. Aber dann fuhr er doch spröde fort: "Beide Augen waren einfach schwarz. Die Augäpfel bestanden nur noch aus fester Gallert, worin keine Pupillen mehr zu finden waren, als sei das Innerste nach außen gekehrt worden und in Schwärze geronnen. Wäre er geblendet worden, durch Hitze oder Verätzung, dann hätte es ganz anders ausgesehen. Und diese Augen und der gesamte Gesichtsausdruck zeigten nichts als... unaussprechliches Entsetzen..."
Langes Schweigen folgte leise ausgeklungenem Satz. Keiner der beiden Menschen wagte eine Bewegung, konnte es auch nicht. Innerlich versteinert saßen sie einander gegenüber.
"Aber daran allein kann der arme Junge doch nicht gestorben sein?" fragte Frau Gundeleit zaghaft und bang.
"Nein, natürlich nicht, liebe Frau."
"Und was verursachte dann seinen Tod?"
"Genau das konnte nicht festgestellt werden, weshalb mich der jüngere Amtsarztkollege ja hinzuzog. Er hatte so einen Toten noch nie gesehen und hoffte, ich könne ihm mit meinen Erfahrungen aus dem Krieg weiterhelfen. Die waren schon alptraumhaft genug, wie sie sicher selbst sehr gut wissen, liebe Frau Gundeleit. Da brauche ich ihnen wohl nichts erzählen. Sie haben den Krieg ja selbst miterlebt, das Grauen der Bombennächte und die verbrannten und verstümmelten... Ach, reden wir davon erst gar nicht! - Ich hatte aber bislang so was auch noch nie gesehen. Ich kann nicht im Mindesten verstehen, wieso dieser arme Junge tot ist und was mit seinen Augen geschah. Eigentlich dürfte er gar nicht tot sein. Wir haben ihn obduziert und nichts gefunden, was auf eine wirkliche Todesursache hinwiese. Er wäre sicherlich blind, der Ärmste, aber wenigstens noch am Leben."
Abermals erschüttertes Schweigen. Dann fragte Eleonore Gundeleit beherzt: "Es ist also nicht möglich, dass vielleicht ein Sittenstrolch es auf Knaben...?" Sie beendete ihren Satz absichtlich nicht, weil man eigentlich über so was nicht sprach.
Dr. Wappler schüttelte bedrückt den Kopf: "Körperlich alles vollkommen intakt, sieht man von den Augen ab und dass er schon gute drei Tage und Nächte nah des ehemaligen Stromwerkes in nasskalter Vorfrühlingswitterung zwischen alten Holzpaletten lag. Ein paar Tiere, vermutlich Füchse oder streunende Hunde, haben ihm zugesetzt. Aber da war er schon längst tot, wie wir mit Sicherheit feststellen konnten. Und sie sind doch eine erfahrene Frau, Verehrteste. An Sittenstrolchen allein ist noch nie jemand gestorben. Und so schrecklich sehen entblößte Männer nun auch wieder nicht aus, dass es den Tod verursacht. Höchstens eklig oder einfach nur lächerlich. Außerdem hätten wir es auch nicht mit einem Kinderschänder zu tun."
"Wie meinen sie, Herr Doktor?"
"Nun, mein Kollege und ich haben in den amtsärztlichen Akten nachgeforscht und fanden heraus, dass es in den verflossenen Jahren noch weitere erschreckend ähnliche Todesfälle gab. Insgesamt sechs seit Kriegsende. Davon drei in den vergangenen acht Jahren. Und da handelte es sich nicht um Knaben oder überhaupt um Kinder, sondern stets um erwachsene Personen beiderlei Geschlechts. Die hat allesamt der Vorgänger von Dr. Penkau dokumentiert, Herr Dr. Riesch. Seinen Aktenanmerkungen nach, muss er teilweise ebenso ratlos vor den Toten gestanden haben. In vier von sechs Fällen stellte er aber körperliche Vorschädigungen fest, die als leidliche Erklärung herhalten konnten, weshalb er es im Verlauf von fast zwanzig Jahren nicht sonderlich alarmierend fand. Allerdings war er wegen der Augen beunruhigt, wagte aber anscheinend nicht, deshalb als einziger irgendeinen größeren Aufstand zu veranstalten. Seine Berichte wurden einfach nicht zur Kenntnis genommen, oder auch nicht ernst. Er soll etwas sonderbar gewesen, der gute Dr. Riesch. Amtsärzte sind außerdem keine übermäßigen Sympathieträger..." Dr. Wappler lächelte ein wenig dabei.
"Wem sagen sie das? Aber was kann dem armen Jungen denn den Tod gebracht haben, um Gottes Willen? Haben sie und ihr Kollege vom Amt überhaupt nicht die geringste Vermutung? Kann es nicht mit dem Stromwerk in Verbindung stehen, ein Stromschlag?"
"Das ist ausgeschlossen, weil im alten Stromwerk nirgendwo mehr Strom fließt. Nicht einmal Schwachstrom. Die Leitungen sind allesamt gekappt. Alles ist stillgelegt und abgebaut. Nein, weder wir, noch die Polizei haben irgendeinen blassen Schimmer einer einigermaßen vernünftigen Vermutung, liebe Frau Gundeleit... außer..." Zögernd verstummte er.