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Abermal, Kapitel 13, Seite 03

flackert


In der großen Pause nächsten Tages vermisste Erfried Bernd Kaiser auf dem Schulhof, konnte ihn im allgemeinen Gewühle nirgendwo erspähen. Schade! dachte er, wollte ihn gern am Nachmittag besuchen. Aber ohne Verabredung? Außerdem fand er Bernd Kaiser eigentlich sehr nett, trotz des Unterschieds von über einem Jahr. Für gewöhnlich merklicher Abstand in ihrem Alter. Als die Schulglocke schrillte, beendete er seine Suche und drängelte samt wildem Haufen in den Eingang. Treppauf ins Klassenzimmer.

Sie fieberten dem Unterrichtsende entgegen. Vorfreude aufs Wochenende. Bis Montag nötigender Lernerei entronnen! Für alle kommenden Tage verkündete der Wetterbericht prächtige Zustände. Man konnte Baden gehen oder anderes machen, wofür Sonnenwetter notwendig. Niemand bemerkte jedoch die bedrohlich fortschreitende Dunkelung überall. Nur Erfried stach sie bald ins Auge. Aber er sagte nichts.

Was sollte er sagen? Der Himmel sei trübe geworden, Farbe aus fremden Gesichtern gewichen, das Laub längst nicht mehr so grün, alle Häuser grauer, Mienen freudloser, Leute ohne richtige Augen liefen herum und stahlen überall Glanz? - Schallendes Gelächter bräche über ihn herein!

Noch zwei Schulstunden standen bevor. Diesmal eine Stunde Geschichte und eine Stunde Schönschreiben.

Wie unter Zwang handelte er nach Schulschluss, lief ausgerechnet über den kleinen Platz mit dem hässlichen Brunnen heimwärts. Schreckensort! Weshalb es ihn dorthin trieb, blieb für ihn selbst unerfindlich. Er wollte es eigentlich nicht. Fast von allein beschritten seine Füße genau diese Strecke, gehorchten anderen Befehlen. Alle Gegenwehr und Anstrengung vergebens. Angstweg, unweigerlich.

Am träge plätschernden Brunnen beäugte er vorsichtig alles. Nichts besonders Auffälliges. Erleichtert nahm er im Augenwinkel verschlossene Toreinfahrt zum Hinterhof seiner ärgsten Furcht wahr. Stumpf glänzte darauf das alte Werbeschild mit dem Industriewappen im Sonnenlicht. Richtig hinsehen, wagte er nicht, versuchte nur angestrengten Überblick.

Grell beschien Sonne Hauswände und teilende Fachwerkbalken darin, spiegelte blendend in großen und kleinen Fensterscheiben, warf scharfe Schatten aufs Pflaster. Glassplitter in Ritzen und kristallene Steineinschlüsse glitzerten. Träge Mittagsruhe, obgleich sehr viele Leute geschäftig umhereilten, Türen öffneten, hineingingen, aus anderen Türen herauskamen, miteinander sprachen, das eine oder andere Wort riefen, Taschen trugen, stehen blieben, wieder weiterliefen. Alles wirkte ganz normal, wenn nicht... ja, wenn nicht Undeutlichkeit auf allem läge. Eine Undeutlichkeit, vorher noch nie derart beängstigend wahrgenommen.

Auch jener Leierkastenmann stand wieder an seinem Platz. Und diesmal fehlten dessen Drehorgel mindestens drei verschiedene Töne. Keiner merkte es, am wenigsten wohl der Leierkastenmann selbst. Geradezu besessen kurbelte er, Blick unverwandt auf ein und dieselbe Stelle gerichtet, bemerkte anscheinend nicht einmal klimpernde Münzen, von menschlichen Umrissen in umgekehrt aufgestellten Hut geworfen. Lediglich schwaches Kopfnicken entlockte es, trieb aber die Kurbel schneller und schneller. Sichtbarer Wirbel. In rasender Folge entsprangen Fehltöne, füllten den Platz, drangen in Einzelheiten, verfestigten, nisteten, fraßen.

Erstaunlich viele trugen Sonnenbrillen. Eigentlich nicht verwunderlich, bei starker Sonneneinstrahlung. Fast niemanden sah er ohne augenverbergende Gläser. Und bei den wenigen ohne schwärzende Blickvorkehrung konnte keineswegs sicher gesagt sein, ob nicht dennoch welche auf ihren Nasenrücken ritten. Gesichter drängelten ins Blickfeld. Schwarze Löcher blinkender Glasscheiben, statt Augen. Und es schien, alle stierten ausgerechnet ihn an, hielten fest, fesselten Gliedmaßen und Gedanken.

Gab es bessere Tarnung für Wesen mit schwarzen Augäpfeln? Wie viele Menschen befiel bereits kranke Finsterung, diese Pest schwarzer Löcher? Sind es denn Menschen, gehören sie überhaupt hierher? Sind sie unmerklich in Straßen und Gassen, in Häuser der kleinen Stadt gezogen, eingeschlichen, verdrängten gewohnte Bewohner? Wohin verschwanden die ehemaligen Bürger? Sind sie finster aufgelöst, eingesperrt in dunkle Wände, saugende Röhren, gefüllt von rauchigem Dunst?

Ruckartig schüttelte er alles ab, lief schleunigst zur nächsten Gasse, floh den auch am Tag unheimlichen Platz. Schwere Schultasche krampfhaft an sich gepresst. Einziger Schutzschild! Klangloser Schritthall an grauen Mauern. Trocken klirrende Fensterscheiben klappten zurück, farblose Gesichter undeutlich dahinter. Leere Augen starrten, verfolgten. Erleichtert überquerte er schließlich kleine Ladenstraße, bog in die Bachgasse ein. - Verlorenes Gefühl.



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Mannie Manie © 1999
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