Frau Kretz öffnete niedrige Tür, offenbar zum Wirtschaftsbereich. Vergleichbar geduckter Gang dahinter. Darin mehrere Türen selber Unscheinbarkeit, ausschließlich linksseitig aufgereiht. Sie öffnete die dritte, deutete aufmunternd lächelnd einwärts.
"Seife und Handtuch sind gleich neben dem Waschbecken, junger Mann", erklärte sie. Angenehm klingende Stimme. "Ich bin gleich zwei Türen weiter, lasse die Türe offen." Sie nickte freundlich, lächelte wieder und ging in watschelnden Schritten davon.
Erfried betrat das kleine Kabinett. Einfacher Waschraum mit gesonderter Toilette. Die Wasserhähne spendeten nur kaltes Wasser. Keine Griffe daran. Man musste den zapfenartigen Hahn insgesamt drehen. Nicht gerade neueste Errungenschaften sanitärer Technik. In hartem Strahl schoss Wasser heraus. Erschrockener Versuch, spritzende Druckgewalt dämpfen, gelang nur unzureichend. Offensichtlich ausgeleierte Dichtungen. Uraltes Zeug und schon lange nicht mehr erneuert. Erst nachdem er ungewohnte Wasserschleuder fast gänzlich zudrehte, minderte deren kalter Strahl in unangenehmes Pladdern. - Besser so, dachte er, griff angeekelt zum aufgeweichten, schmutzig verfärbten Seifenstück. Miefig alte Kernseife!
Das klamme Handtuch aus bretthartem Stoff, gehalten in gruselig dunklem grau, trocknete kalte Nässe kaum. Vor seiner Nase blinzelte kleiner Spiegel, dessen Hintergrund bereits viele blinde Stellen aufwies. Kaum noch etwas spiegelte darin richtig, nur schattenhaft durchbrochen und fleckig. Verwunderlich, solche Unvollkommenheiten in derart hoch herrschaftlichem Haushalt. - Kopfschütteln! - Man sparte anscheinend gern an Stellen, wo Augen 'normaler' Besucher nicht hinfielen. Die wären ihnen hier wahrscheinlich schlank aus Köpfen gekullert und im gluggernden Ausguss rostiger Umrandung verplumpst.
In grausen Kindertagen wurde ihm unsagbares Elend sechs infernalischer Wochen in widerlichem Erholungsheim der Fürsorge zuteil. Selbst dort gab es keine so heruntergekommenen Wascheinrichtungen! Und das wollte nun wirklich was heißen, in öffentlicher Foltereinrichtung für Kinder. Jener denkwürdige Aufenthalt geriet zur schlimmsten Strafe seines jungen Lebens, verfolgte ihn noch immer in Träumen. Vor allem die abartigen Tanten, das scheußliche Essen und der erzwungene Mittagsschlaf.
Allesamt mussten nach dem Mittagessen in üblich quietschende Betten steigen, durften sie unter keinen Umständen verlassen. Ob müde oder nicht, machte keinen Unterschied. Darüber wachte eigens abgestellter und zumeist besonders bösartiger Hausdrachen inmitten jeden Flures des niederträchtigen Kerkers. Selbst qualvoll notwendiger Gang zum Klo wurde Spießrutenlaufen, weil eigentlich unerlaubt. Und als Kind erwartete man da jeden Augenblick, das grässliche Ungeheuer, welches als teuflische Tante, als Frau verkleidet im Flur lauerte, speie sogleich lange Feuerflammen. Höllische Hitze peitsche aus aufgerissenem, mit langen Hauern und Reißzähnen bestücktem Drachenrachen. Dies brenne den Störenfried vom Erdboden fort, hinterlasse lediglich ein Häuflein Asche. Letzteres eilends gierig aufgefegt, lande anschließend achtlos im Mülleimer.
Zu allem Übel glaubten Mütter, Väter und überhaupt die meisten Eltern und Erwachsenen felsenfest, ihre Kinder seien genauso widernatürlich veranlagt wie sie selbst. Es gäbe demnach nichts schöneres, als in ekligen Knästen öffentlicher Fürsorge zarten Alters Tage verschmoren. Rührte wahrscheinlich von ihren leider noch äußerst lebendigen Erfahrungen der NS-Einrichtung KDF (Kraft durch Freude), wovon sie immer noch unverfroren besinnungslos schwärmten. Oder vom hundsgemeinen Irrsinn sowjetzonaler Urlaubsmarschbefehle in schaudervolle Massenquartiere des FDGB auf Rügen und andere Abscheulichkeiten mit Atz und Söff.
Was Wunder? Gründete doch beides in garstigen Vorstellungswelten krankhafter Gleichschaltung und Umnachtung. - Licht aus, Leute! Jetzt wird gepennt, aber dalli! Und danach lechzten die sogar, wie Erfrieds Mutter aus unseliger Zeit und Zonenflüchtlinge neueren Schreckens bestätigten. - Unvorstellbar! Welch hässliche Abgründe? So züchtet man Perverse!
Sogar Müllhalden sind dagegen für Kinder reinstes Paradies. Auf Müllhalden entdeckten sie beim Spielen hin und wieder wenigstens was Spannendes. Und seien es auch nur von Lustmördern zerhackte alte Gerippe. - Wenigstens himmlisches Abenteuer und keine höllische Langeweile mit sadistischen Verwachsenen.
Erfried verließ die an vergangene Kindheitsschrecken gemahnende Waschstätte, stand allein im lichtarmen Seitenflur des gräflichen Stadthauses. Tatsächlich, wenige Meter weiter eine offene Tür. Geräusche und Gerüche drangen heraus, ergaben dringlichen Schluss, eine Küche liege dahinter. Kaffeeduft schwadete in seine Nase und ungeübt weibliche Singstimme begleitete jammerndes Radio in zerrender Verzögerung: "Mit siehiebzehn hat man noch Dräumö..."
Na so was! - Sehr überrascht stand er nach wenigen Schritten im Türrahmen.
Unerwartete Weiträumigkeit kennzeichnete gräfliches Kochgelass, hell erleuchtet vom krassen Licht etlicher Leuchtstoffröhren oben. Eine kugelrunde Köchin in weißer Arbeitskleidung richtete Nachmittagskaffee zu, bemühte Kuchenstücke und andere Leckereien aus Backstuben auf Teller. Eifrig unterstützt von Frau Kretz.