Ein wirklich schöner Tag. Echter Sommertag. So gut wie nichts von Finsterung vorhanden, welche nach und nach über die kleine Stadt kroch. Und vergangene Nacht? - Verdammt schöne Nacht! Nacht voller Anspannung, voller Bedenken und scharfzahniger Ängste, voll seltsamen und bislang unvorstellbaren Dingen. Aber auch eine Nacht voller Erleben, wonach man wusste, man lebte wirklich, sei nicht bloß flüchtiger Gedanke oder Schatten im Zeitfluss. Endlich sicher vor dem Dieb des Glanzes, der in vorherigen Tagen so viel Furcht einflößte. Alles nicht mehr so schlimm, wenn er auch deshalb sein gewohntes Heim in der Bachgasse verlassen musste. Sicherheitshalber! Aber irgendwann vermisse er seine Mutter und Reinhild doch. Gerd Wesseling genauso. Doch ihn sähe er niemals mehr wieder.
"Hallo! Guten Tag, Erf!" begrüßte Frau Nelda aufgeräumt. "Wenigstens er hat sich bereits aufraffen können", lachte sie ins Rund geradezu malerisch aufgebauter Gartentafel.
"Guten Tag, alle zusammen!" grüßte Erfried versammelte Schar. Vier Personen.
Neben Herwig Perchten und Ingomar saß Werner Lübbers, der gar nicht so düster wirkte, wie noch gestern meistenteils. Allerdings auffallend musterhaft gekleidet. Schien wohl dessen Besonderheit, jederzeit tadellose Kleidung tragen. Werner Lübbers nickte lächelnd. "Na? Eine gute Nacht gehabt, oder was davon übrig blieb?"
"Danke, ich habe jedenfalls nichts daran auszusetzen und bin einigermaßen ausgeschlafen", lachte Erfried.
"Nimm einfach irgendwo zwanglos Platz", lud der Hausherr ein. Weite Handbewegung. "Statt des üblichen Frühstücks, haben wir eine Mischung aus Frühstück und Mittagessen bereitstehen. Greif zu und lass' es dir schmecken."
"Das ist ja wirklich wunderbar, liebe Frau Nelda, was hier alles hergezaubert ist. Vielen Dank für diese ganze Mühe." Erfried machte zu ihr gewandt höflichen Diener.
"Unser junger Herr von Welt", lachte Frau Nelda. "Aber mir gebührt für all das hier heute keinerlei Lob. Dazu habe ich selbst nichts beigetragen, bin auch erst vor etwa einer Stunde aus den Federn gekommen. Nein, es ist das Verdienst unseres Freundes Oskar, der Freundin Ilse-Lore und der fleißigen Swantraut. Die waren schon gegen neun Uhr wieder auf den Beinen, bereiteten alles für uns vor und fuhren dann um halb elf in die Stadt hinunter."
"Oh! Wie spät ist es jetzt eigentlich, bitte?" Erfried schaute noch nirgendwo nach der Zeit.
"Viertel nach elf", meinte Ingomar nach kurzem Blick auf seine Armbanduhr.
"Meine Güte! Doch schon", staunte Erfried etwas peinlich berührt über sein spätes Auftauchen.
"Na, da mach' dir mal keine Gedanken", beruhigte Ingomar. "Gundram steht auch an normalen Tagen selten vor zehn Uhr auf. Und dafür, dass du so spät ins Bett kamst, bist du noch ziemlich zeitig dran. Gundram pennt doch bestimmt noch, nicht?" Erfried nickte, erste Bissen eines Honigbrötchens im Mund.
"Freund Oskar Dimpfl lässt übrigens herzlichst grüßen und gute Besserung wünschen. Er rief vorhin an. Mit deiner Schule und deiner Frau Mutter ist alles geregelt." Werner Lübbers lächelte sonderbar verschwörerisch. "Ist doch ganz dienlich, wenn man so was wie unseren Doktor Krankenschein als Freund hat. So schön wie am heutigen Tag, hätte ich früher auch gern einmal die Schule sausen lassen. Niemand wird wegen einer ärztlich bestätigten Armverrenkung Zweifel anmelden."
"Ist ja nur bis längsten Montag", lachte der Hausherr, wurde dann aber ernst. "Bin schon richtig gespannt, ob unsere Einschätzung bezüglich Heinrich Wappler wirklich richtig ist. Seine Sprechstundenhilfe sagte am Telefon jedenfalls nicht, heute sei keine Sprechstunde. Ich selber habe da eigentlich keine weiteren Zweifel, nachdem man mir fernmündlich vom Liegenschaftsamt die Auskunft gab, das eckige Hausding auf dem alten Richthügel gehöre dessen Ehefrau Magdalena."
"Ich dachte immer, der sei Witwer?" Erfried sah mächtig erstaunt hoch.
"Wir dachten alle so einiges, und weniger davon traf im entscheidenden Augenblick zu", nickte Herwig Perchten. "Nein, Heinrich Wappler war natürlich Witwer. Aber er heiratete wieder. In aller Stille und Verschwiegenheit. Eine recht junge Person noch, die neue Frau Wappler, gerade zweiunddreißig. Heinrich Wappler ist immerhin über die Mitte fünfzig weit hinaus. Wir erfuhren es allerdings auch erst neulich. Die Hochzeit war vor fast zwei Jahren. Dennoch kein zwingender Hinweis auf ihn als Brückendiener."
"Höchstens als erfolgreich eifrigen Verehrer seiner Angebeteten, der Kleinstadtgerede vermeiden wollte." Ingomar lachte freudlos, Betracht tatsächlicher Gegebenheiten, an denen es kaum noch Zweifel gab.
"Aber meine Mutter hat doch eine Putzstelle bei Doktor Wappler. Sie hätte doch mitbekommen müssen, dass da eine neue Frau Wappler ist", staunte Erfried weiter.
"Magdalena Wappler wohnte nicht hier. Sie ist Geschichtswissenschaftlerin an der Universität Marburg und lebte deshalb immer dort", erklärte Herwig Perchten.
"Ist ja seltsam, dass ein Ehepaar nicht zusammenlebt", verwunderte Erfried.