Verfolgt und getrieben von zwiespältigen Gefühlen rannte Erfried den Weg bergab in die kleine Stadt. Immer wieder spähte er nach allem, was verdächtig sein könnte.
Ingomars erneuertes Angebot, ihn bis ganz nach Hause begleiten, schlug er heldenmütig aus. Vor einem so tollen Typen wollte er nicht als ängstlicher Bubi gelten, der im finstern Wald hinter jedem Busch ein Ungeheuer fürchtet. Insgeheim hoffte er freilich, es hielte Ingomar nicht ab. Nach zweimaligem Ansinnen hatte es sein Bewenden. Allerdings kam Ingomar zum Ende des Wäldchens mit, verabschiedete ihn mit freundschaftlichem Händedruck und sah wachsam hinterher, bis er hinter von hohen Hecken verdeckter Biegung verschwand.
Hin und her gerissen von gewonnenen Eindrücken, berauscht vom Erlebnis seines ersten echten Männergesprächs, tauchte Erfried zwischen Heckenzeilen am Fuß der Anhöhe. Dennoch von Zwiespalt verfolgt.
Einerseits äußerst unbehaglich, ja ängstlich, dachte er an Warnungen und dunkle Worte Ingomars. Was sollte das genau heißen: Geh nicht in den Sonnenstrahl tanzender Stäube? Und welche Dinge können darunter verborgen lauern, welche man besser nicht weckt? - Vorbei mit harmloser Sicht aus Kindertagen: Elfenbrücken!
Natürlich wusste er schon damals, als Mama dies so sagte, sie verwende ein märchenhaftes Gleichnis, es seien keine echten Elfenbrücken, sondern von Sonnenstrahlen beleuchteter Staub, wie er immer und überall in der Luft schwebte. Aber er fand es so schön und feenhaft, weshalb es ihm jedes mal ins Gedächtnis kam, mitsamt Mutters raunender Stimme, erschienen diese Lichterscheinungen irgendwo. Solche wunderschönen Ausschmückungen nüchterner Gegebenheiten erfinden meist nur Mütter für ihre Kinder. Darin sind sie oft ganz großartig.
Andererseits tanzte glückselige Hochstimmung, dachte er an Ingomar, dessen Verständnis, Erscheinung, Bannkraft, hinreißende Art. Er schien ihm jetzt der schönste Mensch der Welt. Der Welt? Ach was, des ganzen Weltalls! Schwärmerisch erinnerte er den Anblick im Bad, heißhungrig in Augen gesogen. Aufflackerndes inneres Feuer trieb Hochgefühl aufwärts. Und am schönsten: Ingomar zeigte völlig unerwartetes Verständnis und gab offen zu, er habe im gleichen Alter ganz genau dasselbe erlebt! - Ich bin also nicht krank oder falsch angekommen!
Erfried hüpfte bei diesen Gedanken wie ein kleines Kind abwechselnd von einem Bein zum anderen die abschüssige Wegstrecke hinunter. - Ein neuer Freund! Er mag mich gern! Er ist Wahnsinn!
Ob sein jüngerer Bruder auch so ist? Ingomar erwähnte dessen Namen gar nicht. Ich habe auch nicht danach gefragt. Mir ist Ingomar tausendmal wichtiger. Ingomar stellte allerdings deutlich klar, er habe es mit wesentlich jüngeren nicht sehr am Hut. Weder so, noch so. Eindringliche Mahnung: "Verrenn' dich nicht! Das tut nur schrecklich weh!" Und zudem habe auch noch der blöde Staatsanwalt gierige Griffel dazwischen. Schade! Jammerschade!
Aber Ingomar wünschte ausdrücklich weitere Besuche. Er durfte ihm nah sein. Und das genügte. Es musste genügen! Kurze Traurigkeit blitzte auf, sofort von neuem Mut wieder verjagt. Alles Störende verblasste im Hintergrund und er schwelgte erneut in nie gekanntem Überschwang. Weihnachten, Ostern und Geburtstag gleichzeitig, doppelt und dreifach zusammen.
Mitgeschleppte Beklemmungen wichen erst, nachdem er von hellen Schaufenstern erleuchtete lange Geschäftsstraße der kleinen Stadt, die Idiotenrennbahn erreichte. Überall feucht riechende Pfützen des reichlichen Unwetterregens. An einigen Stellen häuften schmelzende Hagelkörner. Merklich kühler, nach brüllendem Gewitter. Die meisten Leute sagen: Gewitter reinigen die Luft! Doch in dieser Weltgegend bringen sie meist empfindliche Kühle und schlechtes Wetter.
Zumindest auf der Idiotenrennbahn in Sicherheit, und bis zum Marktplatz und zur Bachgasse nur noch kurzes Stück. Bis dahin durchschnitten Straßenlaternen, Schaufensterbeleuchtung, Autoscheinwerfer, Leuchtreklamen und Lampen aus Wohnungen hereingebrochene Dunkelheit. Überall liefen Leute, welche er im Falle eines Falles um Hilfe bitten könnte.
Dieses Sicherheitsgefühl verdeckte leise begonnene Veränderung. Dunkelheit schlich verstohlen. Eine Dunkelheit, deren Eigenschaft nicht in fehlendem Licht gründete. Nur sehr empfindsamen Wesen auffällig. Erfried gehörte dazu. Doch im Augenblick lebte er ganz seiner aufschäumenden Freude, bemerkte nichts, stürmte atemlos die enge Treppe zur Wohnung in der Bachgasse hinauf, stand aufgeregt vor seiner streng blickenden Mutter in der kleinen Küche.
Verweisend schaute sie. "Wo hast du dich denn so lange herumgetrieben? Du bist ja kein kleines Kind mehr, Erfried, aber bei so einem abscheulichen Unwetter mache ich mir doch Sorgen."
"Ich war bei der Ronnburg rumgestrolcht, dann ging plötzlich das Gewitter mit einem riesigen Knall los und ich flüchtete in das große Haus in dem großen Garten dort. Da war ein junger Mann, der war riesig nett und ich durfte dort abwarten, bis das Unwetter vorbei ist. Ich hab' dort auch schon gegessen."
"Ein junger Mann? Na, schön! Scheint ja ein netter Mensch. Wohnt der da etwa allein?"
"Nein, seine Leute sind verreist. Eigentlich wohnt dort eine ganze Familie. Perchten, heißen die."
"Kenne ich nicht. Da hinten komme ich auch kaum einmal hin. Sei aber bitte nicht so unvorsichtig. Man weiß nie, was für Leute in abgelegenen oder überhaupt in fremden Häusern wohnen. Bis heute geht mir die Sache mit dem jungen Herbert Welzer aus deiner Parallelklasse nicht aus dem Sinn. Und dann gibt es auch noch die bösen Onkel mit den Bonbontüten..."
"Aber Mama! Dafür bin ich doch schon viel zu alt!" empörte Erfried. Bereits vor geraumer Zeit schlug er alle Warnungen vor gemeinten Onkeln in den Wind. Das wusste seine Mutter glücklicherweise nicht.
"Mit noch nicht einmal dreizehn Jahren, bist dafür noch lange nicht zu alt, mein liebes Söhnchen. Darauf fallen auch noch fünf oder mehr Jahre ältere herein, glaube mir das."
"Ach Quatsch, Mama! Außerdem mag ich Bonbons." Er grinste ungezogen.
"Das ist kein Quatsch!" wies sie ihn entrüstet zurecht. "Und mache dich gefälligst nicht über mich lustig, du Lümmel, sonst koche ich morgen das Mittagessen mit Sigurd und Tom Prox und Co! Ich weiß nämlich schon seit einem Jahr, wo du diesen Schund vor mir auf dem Boden oben versteckst. Dann kannst du mal wieder Johanna Spyri 'Einer vom Hause Lesa' lesen."
Sehr ernste Strafandrohung schrecklichsten Ausmaßes. Erfried duckte am Küchentisch zusammen, erkundigte vorsichtig: "Und warum sind die dann immer noch da?"
"Weil ich als junges Mädchen auch heimlich den Schund von dieser Hedwig Kurz-Malheur las." Sie lächelte verschwörerisch, sah dann aber zur Seite. "Willst du jetzt noch etwas Abendbrot haben?"
"Ein bisschen, gerne, Mama. Aber ich hatte schon was zu essen."
"Sagtest du schon, du treulose Tomate."