"Dass wir und auch ich nicht an den dachten", verwunderte Frau Nelda abermals. "Wirklich sehr schlau und außerordentlich schlitzohrig eingefädelt. Täuscht man uns alle über Jahrzehnte hinweg."
"Tja, der gute alte angesehene Hausarzt", meinte Werner Lübbers. Gespielt scheeler Seitenblick zu Oskar Dimpfl. "Aber eine bessere Tarnung für Bosheiten kann man wirklich nicht haben, gell?"
"Da hast aber amal ausnahmsweis' gar net so unrecht, Klabautermann", gab ihm dieser zurück, stichelte auf dessen Berufstätigkeit im oberen Angestelltenbereich einer Schiffswerft. "Aber jetzt will ich endlich wirklich ein bissel an der Matratz' horchen. Schließlich kann ich nicht bis zum Mittag schlafen, wenn wir zu Erfs Mutter, in seine Schul' und dann zum Doktor wollen. Gut' Nacht dann miteinander!" Er stand auf. Knappe Verbeugung vor der Frau des Hauses und den anderen. Erfried und Gundram lächelte er wissend an. "Und euch zwei wünsch' ich eine besonders schöne Nacht!" Dann verließ er das Speisezimmer in dunkleren Gang. Schritte verhallten. Knarrende Treppenstufen verrieten seinen Weg aufwärts.
Alle wussten offenbar genau um das Band zwischen beiden Jungen. Jedem selbstverständlichster Zustand. Darin machte dieser auf ersten Blick sehr bürgerlich wirkende Oskar Dimpfl keine Ausnahme. Erfried nahm es zufrieden zur Kenntnis, frei und erleichtert, unbeschwert, wie in mittlerweile verflossenen Kindertagen. Auch milderte dadurch empfundene Wehmut, welche noch am letzten Nachmittag Tränen bescherte, als er auf Anraten Ingomars sein bergendes Kindheitsreich endgültig verließ.
Plötzlich leuchtete alles erfreulich anders und er spürte sogar Glücksgefühl. Kein Heimweh zerrte schmerzlich, freilich immer noch heimlich und verborgen zugegen. Gleichzeitig verweilte auch das Wissen um die Gefahr, worin alle schwebten. Aber es wich jetzt weit in Hintergrund. Darüber grübeln und nachdenken? Nein, nach dem Aufwachen morgen blieb dafür genug Gelegenheit.
Seit sie zum Perchtenhaus zurückkamen, beobachtete Erfried unablässig, verstohlen und bewundernd Ingomar. Auch jetzt schaute er ihn an, betrachtete dessen anmutige Art, dessen einnehmende Erscheinung, sog kleinste Einzelheiten. Ingomar wollte am alten Richthügel sein eigenes Leben für ihn einsetzen. Felsenfest! Bedenkenlos stürzte dieser wundervolle Freund vermutetem Feind entgegen. - Keinen Augenblick gezögert! Todesmutig!
Wieder spürte Erfried ursprüngliches Feuer flackern. Gleich am ersten Tag brannte es lichterloh, erinnerte ständig, wie sehr er in Bann geschlagen. Aber das nicht allein. Nur eigentlicher Anfang seltsam inniger Verbindung, die letztlich in ganz andere Bahnen geriet. In diese unweigerlich gehörte, wie er fast verzweifelt eingestand und tief bedauerte. - Es musste so sein, weil es nicht anders ging! - Doch Ingomar nahm bei ihm stets den höchsten Stellenwert ein. Ingomar galt seine hauptsächliche Zuneigung. Nie verlosch das Feuer wirklich, schwelte im Verborgenen, loderte wieder voll entfacht. - Ingomar ist ein Held! Und dieser Held ist mein Freund!
"Ihr zwei solltet auch so langsam in die Federn kriechen", erinnerte Herwig Perchten beide Jungen freundlich. "Wir verabschieden uns auch alle gleich ins Traumland."
"Das wollte ich sowieso gerade vorschlagen." Gundram sah Erfried fragend an, der daraufhin nur nickte, reichlich müde und maulfaul inzwischen.
Sie wünschten gute Nacht oder was davon übrig, verschwanden rasch und wortlos ins denkwürdige Badezimmer im hinteren Hausflur. Dort wuschen sie anhaftenden Staub gründlich ab, putzten flüchtig Zähne, wie man es in diesem Alter meist tut. Erfried blickte kurz herum.
Seltsam! Ausgerechnet eine so alltägliche Einrichtung - ein Badezimmer - gewann dermaßene Bedeutung. Hier fing alles an, hier stand er schlimmste Ängste aus, hier floss sogar sein Blut, vermischt mit dem des geglaubten Alps. Inzwischen überlegte er erneut, ob Perchtens und die Wächter nicht doch so eine Art Alben seien. Es soll ja sehr unterschiedliche Alben geben, wie er mittlerweile wieder erinnerte. Frau Nelda sagte an jenem Nachmittag dazu auch einiges und Ingomar später gleichfalls.
Gundram lächelte übernächtig matt, reichte ein Handtuch, als Erfried keines fand. Wieder einmal fast blind vom Wasser in Augen. Dann stanken sie nacheinander im Klo noch die Luft voll, damit es keiner aus dem Schlaf heraus noch machen musste. Beide hinreichend maulfaul inzwischen, streiften ihre Hemden nachlässig nochmals über und verließen den Reinlichkeitsraum.
Als Gundram unerwartet das Licht darin löschte, schien es Erfried wie Endgültigkeit. Eigenartig unbestimmbares Gefühl beschlich. Er konnte nicht sagen, ob gut oder schlecht. Beim Erlöschen der letzten Lampe im Badezimmer schien abermals etwas zu Ende. - Aber was? - Er schüttelte es ab, folgte nach kurzem Verweil seinem Albenfreund.
Wieder wirkte das Hausinnere seltsam düster, fast unheimlich und geisterhaft. Nur hier und da brannten kleine Lampen. Nicht genug für alle Kehren und Kanten. Zwar fiel bereits durch etliche Fenster aufkommendes Morgenlicht, doch dieses erbrachte im Haus noch lange nicht viel. Schwacher, kaum wahrnehmbarer Schummer. Neuerlich bemerkte er in dunklen Ecken und Winkeln Zugänge und heimlichen Fluchten verborgener Bereiche. Sogar in andere Welten dürften sie weisen. Schwingendes, kaum hörbares Tönen suchte Wege aus fremden Weiten hierher. Zeit zwischen Nacht und Tag. Sonne noch nicht aufgegangen und der frühe Tag wollte dunstig beginnen. Stunden des Wechsels.