Aber Letzteres ist es wohl nicht, kam ihr in den Sinn. Hatte der ältere Polizeibeamte recht, dann verband die Ronnburgleute nichts mit damaligen Machthabern oder der Partei. Andernfalls wüsste man dies bei der Gestapo damals bestimmt und begann erst gar keine Ermittlungen oder nur sehr vorsichtig und heimlich. Jedenfalls keine Maßnahmen, welche in anderen Behörden bekannte Runden drehten. Davor schreckten auch diese zurück oder bekamen frühzeitig einen Wink von 'Oben'. Finger weg! Und das geschah offenbar nicht.
Außerdem: Soweit sie noch wusste, wurden Gestapoleute bei einschneidenden Verfehlungen schlicht ins KZ gesteckt oder gleich von der SS oder dem SD, dem Sicherheitsdienst erschossen! Sonst gewöhnlich kurzerhand woanders hin versetzt, wie andere Beamte auch. Durchaus in sehr brenzlige Lagen. Aber kaum je als ordinäre Landser in Schützengräben. Völlig ungeeignet, weil zumeist längst keine jungen Männer mehr. Und dies alles schon gar nicht, weil sie nur Ermittlungen führten, wenn auch von 'Oben' unerwünschte. Da bedurfte es etwas mehr als beispielsweise beamteter Dummheit. Erst am Ende des Krieges schickten die damaligen Machthaber auch ältere Männer an die Front. So lief es ja nun doch nicht. - Seltsam!
Laue Frühsommernacht beruhigte Eleonore Gundeleits aufgeregtes Gemüt. Jetzt brauchte sie nicht mehr zum Fernsprecher, ging deshalb Häuser entlang um den Marktplatz herum. Arkadengleich überdachten dicht belaubte Baumkronen gepflasterten Gehsteig. Die Kirchturmuhr verkündete klingend zweite halbe Stunde vor Mitternacht.
Aus Augenwinkeln sah sie die Tür der Fernsprechzelle aufschwingen. Hohe Gestalt trat dunkel heraus. Offenbar derselbe hochgewachsene Mann, welcher ihr vorhin Gelegenheit zum Anrufen abschnitt. Schien jedenfalls so. Irgendwie kannte sie diese Person, sah den Mann schon irgendwo. Aber auf weiten Abstand und in unsicherem Licht blieb dessen Gesicht verschwommen. Er sah beständig geradeaus. Die Gestalt erinnerte sie an jemanden. Schattenhaft lenkte der Unbekannte seine Schritte über Kopfsteine des Marktplatzes.
Da hätte ich lange warten können, wenn der erst jetzt sein Gespräch beendet, dachte sie hinlänglich froh. Um diese Zeit derart langes Ferngespräch führen... Redseliger Mensch! Es war ganz richtig, dass ich gleich in die Wache ging und mit den Beamten redete. - Kurz blickte sie noch einmal hinüber, bemerkte beiläufig gemeinsame Wegrichtung, wandte den Blick ab und spazierte zur nahen Bachgasse.
Schimmernder Lichtkegel einer Straßenlampe erhellte deren Einmündung. Dunkelheit dahinter. Schummrig glänzend spiegelten einige Fensterscheiben Laternenlicht, verrieten ihr Vorhandensein in Gassenlänge. Dennoch sah es so aus, als führe jene dunstig wallende Finsternis nirgendwo hin und die Welt der kleinen Stadt ende hier.
Sie durchquerte den Hof aus fadem Licht, welches trotzdem grell von oben herunterbrach, bog in die Bachgasse. Sofort hallten ihre Schritte von Häuserwänden wider, kamen aus dunklen Abständen zurück, erzeugten Eindruck, es komme jemand entgegen. - Kann es sein?
Nein! An drei alten Fachwerkhäusern vorbei blickte sie in leichten Gassenknick. Dort kam niemand. Selbst im sehr schwachen Gegenlicht ferner Laternen der Ladenstraße sähe sie das. Keine Menschenseele. Nur sie als einzige noch unterwegs. Hinter kaum einem Fenstern brannte Licht. Sicher schliefen die meisten längst. Hier und da Lichtschimmer von zugezogenen Vorhängen in Räumen eingesperrt. Dunkel lag die schmale Gasse, wie eine Schlucht, ein Hohlweg, von der Einmündung zum Marktplatz her zwielichtig erhellt.
Fast schlagartige Veränderung! - Hastig sie fuhr herum.
Der Mann aus der Telefonzelle stand am inneren Rand des Lichtkegels, warf langen Schatten über Pflastersteine. Riesenhaft und langgezogen lagerte dieser auf dem Untergrund, wo dessen Kopf zu dunklem Fleck absonderlichen Ausmaßes blähte. Schattenrand erreichte ihre Füße, erfasste Schuhspitzen gleich klebrig feuchtem Auswurf, erzeugte unbestimmte Furcht, ja Angst.
Kälte kroch heran. Eine Kälte, von keinem Thermometer je angezeigt. Keine Kälte, wie sie in harten Wintern knackend herrschte, alles einfrieren, erstarren ließ. Andere Kälte! Diese Kälte konnte man nur erfahren, nur darum wissen. Selbst Seelen und Gedanken erfroren darin, erwürgt von knisternder Härte. Innerhalb stockenden Atemzuges spürte sie anschleichende Gefahr.
Im Sommer konnte kein klammernder Eishauch herrschen. Nicht in diesem Land!
Schon kroch der Schatten an ihr hoch. Reglos drohende Gestalt im Lichtkegel. Starr wartete schwarzer Umriss. Kaltes lähmte die Frau, bannte auf Haustürschwellen, wo sie bereits stand. Sie wollte um Hilfe schreien. Doch plötzlich ausgedörrte Kehle erlaubte es nicht. Selbst wenn, verzehre dieser Schatten jeden Ton, sauge alles auf wie schmutziger Schwamm. - Rasende Angst trieb zum Handeln.
Flatternde Finger suchten verzweifelt den Schlüsselbund, erfassten kühle Metallstifte. Glücklicherweise erkannte Tastsinn schnell den Haustürschlüssel. Schließbärtiger Gegenpart klapperte erst mehrfach metallisch ans Schließblech, passte endlich ein, ratschte kratzend durch Sperren, entriegelte widerspenstiges Schloss. Dumpfer Laut klackte hart. Tür schwang zurück... stickige Schwärze...