Zuhause bei Gundeleits dampfte Aufbruchsstimmung. Gerade noch Zeit zum gemeinsamen Mittagessen.
"Ich muss heute etwas früher los, weil ich meine Putzstelle bei Steuerberater Herbst versehen muss", erklärte Eleonore Gundeleit ungewöhnlichen Betrieb. "Aber zuerst werde ich noch bei Doktor Wappler wegen der Vorbereitungen fürs Wochenende vorbeischauen. Reinhild kommt mit mir. Da sind andere Kinder, mit denen sie spielen kann."
"Mensch, Mama, du rackerst dich langsam richtig ab. Willst du nicht mal ein wenig kürzer treten?"
"Das ist lieb von dir, Erfried, dass du dir Sorgen machst. Aber es ist ja nur diese Woche so. Außerdem bin ich ganz froh, weil auf diese Weise etwas mehr Geld in unsere magere Kasse kommt."
"Das Geld nützt uns nichts, wenn du Wirbel machst bis zum Umfallen, Mama."
"Werde ich schon nicht, Junge", versicherte sie lächelnd, gerührt von dessen Besorgnis. "Und du machst bitte gleich deine Schularbeiten, Sohnemann!"
"Mal sehen, Mama."
"Von wegen, mal sehen! Wenn ich dich erst heute abend dabei sehe, dann mecker' ich 'rum, verlass' dich drauf."
"Ist gut, Mama. Bis zum Meckern, dann!"
"Sei nicht so frech, du Lümmel", lachte sie. "So, jetzt muss ich aber los. Reinhild, kommst du bitte?"
"Ich will nur noch Susi ganz anziehen." Sie meinte ihre Lieblingspuppe.
"Nimm die Anziehsachen doch mit, dann kannst du es dort machen, Reinhild."
"Ich lass' doch meine Susi nicht halb nackend rumlaufen!"
"Das merkt die doch jetzt gar nicht", begütigte Eleonore Gundeleit. "Außerdem ist es draußen nicht kalt." Sie packte Puppe samt Puppensachen in ihre unvermeidliche große Tasche zur Arbeitskleidung und verließ die Wohnung, Reinhild an der Hand. Wenige Augenblicke später streckte sie nochmals den Kopf herein. "Sag mal, hast du schon deinen Schlüsselbund bei Familie Perchten abgeholt?"
"Nein, Mama. Ich war noch nicht dort", antwortete Erfried ausgesprochen unwohl erinnert.
"Dann solltest du das heute nachmittag endlich erledigen und nicht verschluren lassen. Nach den Schularbeiten hast du dazu doch genug Zeit."
"Ich wollte nachher eigentlich noch zu Günter."
"Zu Günter kannst du immer noch. Du sollst ja nicht an der Ronnburg einziehen, sondern nur deinen Schlüsselbund dort abholen. Außerdem sind diese Herrschaften ein viel besserer Umgang für dich, als die Familie Meinrad, junger Mann."
"Ich werde ihn auch bald abholen, Mama", versprach er, mochte jedoch nichts festlegen.
"Schön, Erfried. Dann auf Wiedersehen!"
Bedrückt saß er danach nachdenklich am Küchentisch. - Offensichtlich wirkte Albeneinfluss bei seiner Mutter wesentlicher als bei ihm selbst. Er spürte keinen ausgeprägten inneren Zwang zum Haus an der Ronnburg, wie noch gestern. Gewiss, weiterhin Drängen und Nagen. Aber von Zwanghaftigkeit konnte keine Rede mehr sein. Nur Mutters Mahnung erinnerte wieder an jene Angst, schürte Furcht vor Albenbann. Unweigerlich wieder darin eingefangen, käme er auch nur in Sichtnähe des Perchtenhauses.
Erneut kroch Verzweiflung hoch. Zwar einigermaßen in Grenzen, aber deutlich. Und so sehr er auch dagegen ankämpfte, diese Verzweiflung stand unverrückbar. Er wusste, letztlich führe kein Weg daran vorbei. Abermals musste er zu den Alben. Nicht wegen des Schlüsselbundes. Wenn nur deshalb, dann ginge es ja. Er fühlte nichts als nackte Angst bei dem Gedanken. Draußen lauerte Himmel vor Fenstern, entsprechend jetziger Stimmungslage: Grau und bewölkt! Und so auch sein Lebensmut, welcher wieder tief absank.
Sicheres Ende machen! Sterben ist besser als Sklaverei! - Sollte er im Falle eines Falles diese Farbenräuberin im hässlichen Bungalow doch herausfordern, wenn der Dieb des Glanzes abermals nicht auftauchte?
Schnell scheuchte er dunkle Gedanken fort. - Das kommt nicht in Frage! Es muss doch einen Ausweg aus dieser Sackgasse geben! - Ihm wollte jedoch kein Durchschlupf einfallen.
"Ich will leben!" sagte er laut, erschrak sofort über eigene Stimme. In der leeren Küche klang sie wie aus einem Grab. Auch plötzlich verirrter Sonnenstrahl, kurz durchs Fenster auf den Küchentisch gefallen, änderte daran nichts, machte alles nur schlimmer.
Nie wieder Sonne sehen, blauen Himmel, seinen Freund Günter, Mama und Reinhild? In jungen Jahren? Das ganze Leben stand noch bevor!
Tränen stahlen heraus. Erfried wischte sie entschlossen fort, stand auf, ging in sein Zimmer, machte tatsächlich Schularbeiten, stürzte geradezu hinein. Derzeit beste und einzige Ablenkmöglichkeit von niederschmetternder Gesamtlage. Aber immer wieder schweiften Gedanken ab, führten alle Aussichtslosigkeit beständig und unabweisbar vor Augen. Letzten Endes, kein Entkommen. Einem Alp entkommt man nicht.