"Ich entsinne mich", lächelte diese und reichte Erfried feine, zugleich erstaunlich kräftige Hand. Auf ersten Blick zierlich wirkende, besaß demnach unvermutete Seiten. Ilse-Lore Schuler, deren voller Name. Gesicht etwas rundlich geformt, aber sehr angenehm. Lidränder von schwarzem Strich betont, ließ überraschend blaue Augen stark auffallen. Schöne Augen!
Danach stellte Frau Nelda ihn beiden ziemlich verschieden anmutenden Herren vor: Werner Lübbers und Oskar Dimpfl! Nach rollender Aussprache geschätzt, stammte Letzterer offenbar aus Bayern, schien um Vierzig. Rein äußerlich überaus bürgerlicher Eindruck, nussbraunes Kopfhaar etwas schütter. Wacher Verstand und lauernder Witz sprachen aus dessen Gesichtszügen. Verborgene Spannkraft zeichnete ihn aus. Später erfuhr Erfried erstaunt, Oskar Dimpfl zähle bereits dreiundfünfzig Jahre.
Werner Lübbers sah er nie zuvor. Der bliebe sicher im Gedächtnis. Sehnig sportliche Gestalt. Er wirkte etwas düster und geheimnisvoll. Bestimmt nicht viel älter als Ingomar, machte er aber wesentlich abgeklärteren Eindruck. Deshalb erschien er wohl älter, jedenfalls kurz besehen. Sein Lächeln zeigte weitere Eigenschaften, welche sicher weniger düster und dass er noch lange nicht so alt sein konnte, wie erst geglaubt. Üblich langer Fingernagel am kleinen Finger, bei ihm besonders kräftig und ausgeprägt.
"Nun, wo möchtest du gern sitzen?" lächelte Frau Nelda. "Du kannst auf der Gästeseite, der rechten Seite Platz nehmen oder dich gern zum Hausstand gesellen." Sie wies zur linken Tafelhälfte auf Ingomar, Swantraut und Gundram. Alle drei lächelten ob 'Hausstand' leicht gequält.
Neben dem düsteren jüngeren Mann, Werner Lübbers, mochte Erfried nicht gern sitzen. Bestimmt langweilig. Oskar Dimpfl, vermutlicher Bayer, schien lustiger und sehr angenehmer Zeitgenosse. Aber daneben gab es keinen freien Sitzplatz. Ilse-Lore Schuler schied aus gleichen Gründen aus. Zudem auch nicht so sehr sein Ding, zwischen oder neben zwei Damen sitzen, welche sicherlich anderen Gesprächsstoff liebten, als jemand seines Alters vorzöge. Gundram grinste herüber, deutete auffordernd auf den Stuhl an seiner Seite.
"Wenn's denn recht ist, dann gehe ich zum Hausstand, Frau Perchten" meinte Erfried, dem die Wahl nun nicht schwer fiel.
"Aber gerne doch! Immerhin hat dich ja unser Frecke schon längst in seine Bande, in unsere Familie aufgenommen", lachte Frau Nelda. "Ist der denn endlich mal wieder aufgetaucht oder immer noch auf Freierspfoten?" fragte sie ihren familiären Anhang.
"Also, ich hab' ihn heute noch nicht gesehen", schüttelte Ingomar den Kopf. Alle anderen verneinten gleichfalls.
Erfried ging zum gewählten Platz. Von nun an säßen neun an der Wächtertafel.
Es gab Forelle blau mit Butterkartoffeln, frischen Erbsen und Petersilie. Eine Leckerei, Zuhause in der Bachgasse nur sehr selten auf dem Tisch. Jetzt erst merkte er mittlerweile bohrend angewachsenen Hunger und langte kräftig zu. Zwei und eine halbe Forelle verschwanden innerhalb weniger Zeit, dazu entsprechende Mengen junger und sehr wohlschmeckender Kartoffeln und Erbsen. Anschließend löffelte er zusätzlich zwei Schalen köstlichen Karamellpudding. Auch die leichte Gemüsesuppe, als Vorspeise gereicht, fand doppelt eifrigen Zuspruch. - Es schmeckte einfach herrlich!
Alle erwachsenen Tafelteilnehmer schauten milde erstaunt, verwunderten nicht schlecht, welche Mengen in Heranwachsenden verschwinden konnten. Ilse-Lore Schuler sah erfreut, wie sehr ihre Kochkünste geschätzt. Hauptsächlich deren Verdienst, dieses Abendessen. Gundram zeigte hingegen mehr Zurückhaltung. Aber er nahm seit Mittag bestimmt Zwischenmahlzeiten. Erfried gar nicht. Über Trauer und damit verbundenem Schrecken des Tages verspürte er keinen Hunger, bekäme vorher wohl auch nichts herunter. - Weitgehend vorbei. Er schöpfte neuen Mut, dachte an Rache für seinen ermordeten älteren Freund Gerd Wesseling. Natürlich darüber kaum im klaren, wie das vonstatten gehen sollte. Allerdings verschwendete er jetzt keine Gedanken daran.
Abgeräumt wurde nach dem Essen noch nicht. Tafelmaße erlaubten durch einfaches Umstellen zum großen Kerzenleuchter genug freien Platz. Man saß bei aromatischem Kaffee türkischer Art und duftigem chinesischen Tee beieinander. Lediglich Werner Lübbers, jener düstere jüngere Herr, wünschte perlenden Weißwein zum Abschluss, den er sichtlich genoss. Erfried fand nur, dieser finstere Mensch solle dabei vielleicht weniger schlürfen. Ihm nicht geläufig, echte Genießer schlürften Wein stets und tranken Rebensaft nicht einfach schnöde. - Nun ja! Aber das geht auch etwas geräuschärmer.
Nach und nach wechselte lockeres Tischgespräch in ernstere Bereiche. Jeder wusste, welche Drohung aufzog. Sie stellten bevorzugt tödlich gehasstes Ziel eines Rachefeldzuges dar. Ein Rachefeldzug, worunter gesamte Umgebung und sehr viele unbeteiligte, gänzlich unschuldige Menschen leiden müssten. Den Wächtern konnte nicht entsetzlich viel geschehen, blieben sie auf der Hut. Sollten alle Stricke reißen, bot unterschwelliger Schutz der Ronnburgwälle Sicherheit. Dort fehlte dem Lichtfresser fast alle Macht.