Alles nur Irrtum? Waren schwarze Löcher etwas ganz anderes als man glaubte und großspurig von Rednerpulten herab kundtat? - Erfried wusste nicht, was wirklich stimmte und was diese vielfach sehr eitlen und redereichen Wissenschaftler nur bedeutungsvoll vortrugen. Ganz sicher durfte er dem dunklen Mann auf keinen Fall zu nahe kommen, musste gehörigen Abstand halten. Aus den Augen verlieren aber auch nicht. Insbesondere nicht bemerkt werden.
Und was war, wenn der sich einfach auflöste? Was ist, wenn ich mir das jetzt nur alles einbilde? - Der Junge schüttelte ängstigende Bedenken ab. Seinen Augen, seinem Fühlen vertraute er, stellte keine Wahrnehmung in Frage. Zumindest, solange nicht eindeutiges Gegenteil wahrscheinlicher. Zügig folgte er der Gestalt unbeirrt die Straße hinauf.
So ganz nebenbei bestahl der Dunkle noch zwei reich aussehende Frauenzimmer in teuren Sommerpelzen. Sie äußerten gerade lautes Entzücken über Schaufensterauslagen kleinen aber offenbar feinen Juweliergeschäfts. Einfach bestohlen, merkten sie nichts davon und auch künftig kaum. Nur grauere Gesichter, dumpferes Lachen und viel matterer Juwelenschmuck bewiesen Raub.
Ein Diebstahl, wofür man den Dieb niemals zur Rechenschaft zöge. Kein Polizist könnte ihn überführen. Kein Grund zu Verhaftung oder Anzeige. Kein Richter verurteilte den Dieb, weil er nichts stahl, irgendwie in Geld oder Sachwert messbar. Kein Schaden nach menschlichem Maßstab. Und nur für hinterlassene graue Gesichter und glanzlose Goldschmiedearbeiten konnte man niemanden bestrafen.
Geschah überhaupt Diebstahl? - Diebstahl ist menschliche Einordnung. Ein schwarzes Loch raubt oder stiehlt nicht, sondern nimmt nur auf, was zufließt, keinem gehört. Es gehört ja selbst auch keinem, bildet in seinem Sterne zerreißenden Sog mit anderem neue Einheiten, ändert Zustände, gleichzeitig eigene, wird jeden Augenblick zu etwas neuem und einverleibte Dinge ebenfalls. Stürme reißen gleichfalls im Wege stehendes fort, wirbeln Wäsche von der Leine, zerstören ganze Häuser, verwüsten Landschaften.
Sind Stürme Diebe? - Nein! Das ist Unsinn! Schaden richtet ein Sturm nur nach menschlichem Maßstab an. Er selbst bahnt nur seinen Weg, weiß nichts von Raub oder Tod und Todesängsten, von Verheerung in geschlagenen Schneisen.
Aber ob das auf diesen dunklen, unvorstellbar alt wirkenden Mann zutraf? - Alter Mann? Wirklich einfach nur alt?
Zwar verstand Erfried es nicht so ganz, doch beschlich unsicheres Gefühl, es könne auch Zeitlosigkeit sein. Wie ein Greis lief der nicht über den Gehsteig, wenn auch auf seltsame Weise gemessen und getragen. Fast schleppend. - Schleppend! Genau das! Er schleppte anderes mit, zog Fremdes heran, trank Helligkeit, wie ein Durstender Wasser.
Der Dunkle gewann zunehmend Abstand. Wollte er dem Fremden auf den Fersen bleiben, musste der Junge jetzt schneller laufen. - Was nützt es, wenn er weiß, wohin jener dunkle Mann will?
Die Frage verflog im nächsten Augenblick. Gerade noch sah er dessen Gestalt in eine Seitengasse biegen. Erfried rannte los, erreichte nach Atem ringend den Durchlass. Erleichtert und geängstigt sah er den Fremden in menschenleerer Mauerfurt. Zielbewusst ging der Dunkle durch Fachwerkschlucht. Beständig Abstände schlingender Schritt. Kein Blick woanders hin, außer auf seinen Weg. Erfried folgte vorsichtig, blieb sorgsam bedacht in Deckung gedrängter Häuser. Jederzeit bereit, in einen Hauseingang abtauchen oder zumindest kehrt machen, Flucht ergreifen.
Selbst hier alt gereihte Bauwerke erweckten Eindruck, es zerre an ihnen und sie suchen aneinander Schutz vor vorbeiziehendem Sog. Dämmerig wirkte die Gasse, fast wie ein Tunnel. Kaum fiel geringes Tageslicht auf Kopfsteinpflaster, wurde sofort von schmutzig grauen, glattgetretenen Steinen verschluckt. Auch wenige hellere Löcher aus Himmelsblau in Höhen änderten nichts daran.
Der Fremde erreichte das Gassenende. Rasch folgte der Junge auf leisen Schuhen. Schritte verursachten wegen harter Sohlen lautes Getrappel in eigenen Ohren. Widerhall von Häuserwänden. Viel zu laut, fand er bang, hoffte inständig, der unheimliche Fremde höre ihn nicht. Herzpochen bis zum Hals vor Anspannung, als er selbst am Ende anlangte. Vorsichtig linste er um die Hausecke.
Kleiner Platz weitete bucklig. Träge platschte unansehnlicher Brunnen inmitten. Aus kleinem Rohr im Maul spuckte hässlicher Steinfisch zäh fließendes Wasser in viereckiges Becken. Ringsum drängten Häuser aneinander. Altes Fachwerk, weniger gepflegt als am Marktplatz und dort umliegend. Auch hier herrschte bedrückend gedämpfte Stimmung. Aber wenigstens einige Leute unterwegs. Sie kamen aus schief wirkenden Türen, überquerten den Platz, traten in andere Türen ein oder verschwanden in wenigen abgehenden Gassen. Irgendwo weinte laut ein Kind, schimpfte Frauenstimme, jaulte Radio aus offenem Fenster. Raues Männerlachen schallte über das Pflaster, erstarb an wartenden Wänden.