Erfried entdeckte Bernd Kaiser an diesem Tag erst, als es grell zum Ende der großen Pause läutete. Im Gewühle vieler Schüler im großen Hof geriet es jedes Mal zur Schnitzeljagd, traf man keine genauen Absprachen. Sie sprachen vorher nichts ab, winkten kurz, grinsten wissend und tauchten in verschiedene Eingänge und Gebäudeteile hochnotamtlicher Zwingburg. - Noch zwei ganze Unterrichtsstunden.
Endlich schrillte die Schulglocke am Mittag, lärmte durchdringend in Fluren, erlöste Geschundene. Dampfende Stimmung herrschte stickig im Klassenraum, nach qualvoll lähmendem Diktat. Draußen schollen bereits erste befreit fröhliche Stimmen anderer Klassen.
Einigen fiel immer unverdientes Glück in den Schoß, durften beim ersten metallischen Glockenton sofort aus Folter flüchten, wälzten als wilde Horde trampelnd durch Flure. Lärmende Springflut aus Leibern ergoss treppab. - Raus hier! Bloß weg aus dieser Anstalt!
Nicht so, Erfrieds Klasse heute. Oberlehrer Mantey diktierte gerade letzte Sätze. Verkrampfte Finger schrieben auf Heftseiten. Hoffentlich geht nicht ausgerechnet jetzt einem Unglücksvogel die Tintenfüllung aus, beteten sicherlich viele.
Zwar benutzten die meisten schon längst Patronenfüller, aber nicht geringer Teil Kolbenfüllhalter, mit durchaus viel mehr Tinte betankt. Und, wie es böse Mächte wollen: Mitten im Schreiben leer! - Haarsträubende Lage und wesentlich umständlicher als Patronen austauschen. Jedenfalls unterbrach es den Fortlauf empfindlich und alle mussten warten, bis Tintetanken abgeschlossen. Nicht selten landeten dabei Kleckse auf Heftseiten, was schlechte Noten ergab. Der eine oder andere Pechvogel vermisste manchmal sogar sein Tintenfass. Besonders übel!
Oberlehrer Mantey bekam solcher Gelegenheiten meist einen Anfall und meckerte überaus ungehalten: "Wieso kannst du dir das nicht schon vorher alles richten? Wenn du keine Tinte hast, dann kannst du nächstens mit Rotz schreiben und kriegst 'ne Sechs! Jetzt mach' mal hin, du Pfeife, die anderen warten schon. Glaub' ja nicht, dass ich deswegen das Diktat abkürze. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Merkt euch das, ihr Bande!"
Glücklicherweise geschah den Tag nichts jener schrecklichen Art. Ihre Diktathefte wurden stets von einem oder zwei ganz hinten sitzenden Klassenkameraden eingesammelt.
Endlich auch dies erledigt. Oberlehrer Mantey nahm brummig Heftstapel entgegen, knurrte einmal kurz, was wohl eigentümliche Höflichkeit darstellte und unter Umständen, vielleicht, möglicherweise, eventuell sogar 'Danke' bedeutete. Aber so genau konnte man es bei diesem misslaunigen Patron nie sagen. Ebenso gut konnte sein Knurren 'verschwinde!' oder 'wurde auch Zeit!' heißen. Besondere Lust, Diktate korrigieren, verspürte er offenbar keine.
Erfried fragte nicht zum ersten Mal still, wieso der nach dem verdammten Krieg überhaupt auf Lehrer umsattelte, wenn ihm seine Arbeit dermaßen auf den Geist ging? Manchmal wünschte er auch, Jagdflieger Mantey wäre besser von einer Spitfire oder einer Lightning vom Himmel geputzt worden. Oder Bordschützen fliegender Festungen oder Lancaster-Bomber hätten ihn kurzerhand mit Leuchtspurmunition durchsiebt und das Lebenslicht ausgeblasen. Zumindest den Knilch soweit arbeitsunfähig geschossen, damit er selbst als Aktenkleckser nicht in Frage käme. Jedenfalls schien es ihm oft genug sehr wünschenswert.
Leider nicht geschehen. - Blöde Tommys! Bescheuerte Amis! - Oberflieger Mantey bewies meist fabelhafte Gesundheit und qualmte wie ein Schlot. Nach eigenen Aussagen, kriegte er nur fünfmal überhaupt gefährliche Treffer in seine Flugmühlen und legte viermal himmlische Bruchlandungen auf hoppeligen Feldflughäfen hin. Totalschaden! Aber leider nur an bedauernswerten Flugzeugen. Unsagbarer Verlust!
Schließlich blickte Herr Mantey auf und raunzte: "Alles klar, Kinder, die Stunde ist zu Ende. Wir sehen uns dann Morgen wieder!"
Das sagte er stets in einer Weise, die eher daran gemahnte: Macht euch bloß vom Acker, bevor ich euch noch ein Diktat aufbrumme! Morgen könnt ihr was erleben, versprochen! Anschließend saß er am Pult und ließ die Schüler einzeln vorbeilaufen, nickte dabei wenigstens mit äußerst zartem Hauch an Wohlwollen, wenn jeder "Auf Wiedersehen, Herr Mantey" sagte.
Erfried packte seine Schultasche heute absichtlich sehr langsam. Als letzter verließ er den Platz, steuerte geradewegs zum Lehrerpult und blieb stehen. Herr Mantey schaute durchdringend. Er schätzte es ganz und gar nicht, wenn Schüler außer der Reihe etwas wollten.
"Was gibt's denn noch, Gundeleit?" Über Brillenrand hinweg blickte er Erfried an. Zeichen besonderer Missbilligung, weil es Brillengläser nicht 'abnutzte'.
"Entschuldigen sie, Herr Mantey, ich wollte fragen, ob in unserer Schulbücherei vielleicht etwas über die Ronnburg und die Umgebung davon zu finden wäre?"
"Über die Ronnburg?" verwunderte Oberlehrer Mantey. Er taute aber etwas auf, weil er auch für die gesamte Schulbücherei hauptzuständig. Wenn Schüler nach bildendem Lesestoff fragten, fand er das durchaus in Ordnung. "Wieso ausgerechnet darüber?"