"Grüß dich, Erfried! Du, ich hab' eben das neue Sigurd geholt. Hast du das auch schon?"
"Nein, ich bin gestern nicht dazu gekommen, das zu kaufen."
"Wir können's ja gleich mal zusammen lesen."
"Du, das geht jetzt nicht, ich muss für meine Mutter was erledigen."
"Wie lange dauert denn das? Mein älterer Bruder hat übrigens neue Scheiben von Ten-Years-After und den Who. Die sind supergut!"
"Mensch, prima! Aber das müssen wir später machen. Ich muss jetzt weiter. Tschüs!"
Er log den gutmütigen Kerl einfach an. Erfried fand sein eigenes Verhalten mies. - Dein bester Freund! - Aber im Augenblick besaß er keinen rechten Nerv für ihn, blickte noch einmal zurück und hob grüßend die Hand. Günter stand noch immer auf derselben Stelle und schaute entgeistert, verstand bestimmt nicht, weshalb Erfried bei genannten neuen Rockscheiben keine sonderliche Begeisterung zeigte. Und dies musste auffallen. Beide liebten jene Rockgruppen, kannten fast jedes einzelne Stück, hörten deren Musik mit zuckenden Gliedmaßen, tanzten wie besessen auf die hämmernden Rhythmen, genossen brausende Schauer, erzeugt von schleudernden Gitarrensoli.
Rasch strebte Erfried zum kleinen Bahnhof, in Gedanken schon ganz weit weg, sah nicht noch einmal nach hinten. Wäre ohnehin zwecklos. Bereits über den kopfsteingepflasterten Marktplatz hinaus, konnte er Günter nicht mehr sehen und umgekehrt.
Am Bahnhof entdeckte er Gerd Wesseling. Ihn wollte er eigentlich am Vortag treffen. Aber Ingomars langer Fingernagel nahm alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Gerd Wesseling gehörte irgendwie zu jenen, vor denen Erwachsene unablässig warnten: Die bösen Onkel mit Bonbontüten!
Freilich, Gerd Wesseling bot niemals Bonbons an. Schon gar nicht in Tüten. Er arbeitete als Kranfahrer, zählte bereits 46 Jahre. In seiner Freizeit, Ringer und Ringertrainer, Vater zweier Töchter und mit gering unterhaltsamer Frau verheiratet, glaubte man im letzten Fall dessen Worte. Meist weit außerhalb auf Baustellen tätig, vom Fahrdienst seiner Firma am Bahnhof morgens abgeholt und am Nachmittag wieder abgeladen. Das nutzte er vielfach, um in der Bahnhofswirtschaft noch einen Kleinen zu heben. Da drin stank es immer schaurig nach verschüttetem Bier, und dortige Gäste stellten nicht entfernt den viel beschworenen guten Umgang dar, welchen Erfrieds Mutter nimmermüde anmahnte.
Statt Bonbons, bot Gerd Wesseling viel besseres: Er kaufte regelmäßig schlecht beleumundete Hefte, worin unangezogene Leute in albernen Posen abgebildet. SONNENFREUNDE oder FREIES LEBEN hieß das Zeugs. Gar nichts fand er daran zuchtlos, beteiligte die neugierigen Halbwüchsigen an blanken Anblicken. Man duzte einander.
Und sei man doch ehrlich, bitte! An Harmlosigkeit waren jene Bildchen mit Nackenden beiderlei Geschlechts nicht zu unterbieten. Wenn auch eingestanden werden muss, dass es hierbei weniger um Werbung für Freikörperkultur im eigentlichen Sinne ging, sondern um Befriedigung platter Gucklust. Immerhin ausgesprochen ansehnlich ausgesuchte Nackende. Wenn sie bloß nicht so häufig in eigentümlich bis vollkommen lächerlichen Verrenkungen irgendwelchen Ballspielen nachhingen oder - noch dämlicher - beim Seilhüpfen auch alles andere mithüpfen ließen.
Erfried kam genau zur richtigen Zeit aber nicht am richtigen Tag. Jedenfalls wollte Gerd Wesseling eilig vom Ort bahnhöflichen Unheils fort, erblickte den näherkommenden Jungen. "Tag Erfried!"
"Guten Tag, Gerd! Willst du gleich weg?"
"Du weißt doch, dass ich heute Training habe."
Einst in jüngeren Jahren als Ringer im Halbschwergewicht eine Art Lokalmatador, trainierte Gerd immer noch ein bis zweimal die Woche. An seine ganz große Zeit erinnerten anderthalb Blumenkohlohren. Wer rastet rostet! sagte er gern und meinte, die meisten seines Alter seien deshalb so fett oder werden krank, weil sie einfach nichts mehr für sich machten. Da ginge man eben aus dem Leim. Mit dem Alter an Jahren habe es nämlich nur sehr wenig zu tun, sondern mit zuviel Bier und zuviel Essen und faulem Rumhocken vor der Glotze oder anderswo.
"Gestern hatte ich gut Zeit", meinte Gerd etwas vorwurfsvoll. "Ich hab' dich auch noch von fern gesehen, wollte dir aber nicht laut nachrufen. Wie sähe das denn aus? Wieso bist du denn verschwunden? Wir wollten uns doch treffen."
"Mensch, tut mir leid, Gerd! Aber mir war was eingefallen, das ich vergessen hatte und unbedingt noch machen musste."
"Na, daran hättest du doch auch vorher schon denken können. Bist wieder mal mit deinen Gedanken sonst wo rumgeschwirrt, wie?" Gerd grinste, kannte den Jungen gut und dessen manchmal verträumte Art.
"Kann schon sein."