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Abermal, Kapitel 25, Seite 08

flackert


"Aha, das weißt du also auch schon. Ja, Erf! In erster Linie geht es darum. Um diesen alten Teufel! Dies Ungeheuer auf zwei Beinen gefährdete damals das Gleichgewicht, weshalb unsere Vorfahren, verbündet mit den Grafen von Dahlendorf, ihn und seine Helfershelfer hier auslöschten oder verjagten."

"Was für ein Gleichgewicht denn?"

"Alles muss in der Waage bleiben, auspendeln können. Licht und Dunkelheit bedingen einander, sind ohne das jeweils andere nicht vorhanden. Das ist mit allem so. Wenn man weiß, was Hass ist, dann weiß man auch, was Liebe ist, weil man es sonst nicht empfindet. Aber die Waage darf niemals zur einen oder anderen Seite gedrückt werden. Alles kippt dann um."

"Was ist dagegen einzuwenden, wenn die Waage zur Seite der Liebe kippt? Ich fände das nicht schlimm."

"Unbedarft unschuldig gesehen, ist es wohl so. Man meint, reine Liebe ohne alles sei der wünschenswerteste Zustand. Leider stimmt es nicht! Das ergäbe ein Auslöschen beider Seiten. Liebe macht genauso blind, wie Hass. Es muss zwingend den Gegensatz geben, immer ausgeglichen."

"Na, also, wenn ich mir die Geschichte der letzten Jahrhunderte anschaue, dann scheint mir das nicht gerade sehr ausgeglichen. Sehr erfolgreich haben eure Alten das nicht hingekriegt", lästerte der Junge.

"Dass dir das so scheint, verstehe ich gut. Vornehmlich gibt es in der Geschichtsschreibung nur die Kriege und Grausamkeiten. Bedenke aber, in der ganzen Zeit nach der Inquisition gab es hier keine entsprechenden Versuche mehr, anderen massenhaft und dermaßen niederträchtig den Willen, das eigene Denken aufzuzwingen."

Erfried lachte verächtlich. "Also, dann schau dir bitte nur die jüngere Geschichte an! Das war doch wirklich kaum von den hundsgemeinen Machenschaften der Inquisitionsfolterknechte zu unterscheiden!"

"Du hast völlig recht! Damit hat es wieder angefangen. Und seit dem Ende des letzten grausigen Krieges bemerkte man bei uns auch die Anzeichen, der Glanzdieb wolle wieder übertreten. Er muss hier mindestens einen Helfer haben, der ihm bereitwillig als Brücke dient. Um überzutreten, übernimmt der Dieb des Glanzes die Wünsche dieses Menschen, schlüpft sogar in dessen Gestalt. Schlechte Wünsche und großer Hass sind seine besten Brückenpfeiler. Er nutzt die Schräglage der Waage bei solchen Leuten. Aber es gibt glücklicherweise nicht übermäßig viele, bei denen das Gleichgewicht so gestört ist und auch noch über hinreichende geistige Gaben verfügen. Dumme Mörder oder hirnlos grausame Zeitgenossen sind ungeeignet. Außerdem macht man allenthalben auf sie Jagd oder sie sind zu bekannt."

"Du meinst also, jeder kann auf die eine oder andere Art zur Brücke des Farbenräubers werden?"

"Jeder, bei dem der Waagebalken zu stark neigt. Und es gibt eine Menge Leute, die eine Gradwanderung am Abgrund vollführen und zugleich keineswegs Idioten sind. Da kenne ich in der Siedlung nahe der Ronnburg so einen raubvogeligen Zeitgenossen. Der ist da Prediger und Anführer ziemlich abschreckender Betgesellschaft..."

"Bruder Tobler von der Bethlehem-Gemeinde?"

"Du kennst den?" - Erfried erzählte kurz seine Erlebnisse im Haus der Familie Bernd Kaisers.

Ingomar lachte. "Das sieht dem ähnlich! Ist ja schauderhaft! Der arme Junge, der sich das in seinem zarten Alter antun lassen muss. Aber dieser Betbruder ist so ein Fall. Der sitzt genau auf einem scharfen Grat, ist von blanker Bosheit nicht mehr weit weg, pendelt ständig in der Gefahr, irgendwann lustvoll in den finsteren Abgrund zu stürzen. Der würde es nicht einmal merken in seiner Verbohrtheit und es als Bevorzugung durch seinen Gott verstehen, was immer er sich darunter vorstellt und was dieser eigenartige Gott sein mag. Gütiger Himmel! Genau der üble Modersumpf auf dem die Inquisition heftigst ins Kraut schoss. Und von politischen Fanatikern unterscheiden sich solche sowieso nicht. Das ist ein und dasselbe, hat nur andere Namen, kommt letztlich alles aufs Gleiche raus."

"Könnte dieser Bruder Tobler nicht der Helfer sein, die Brücke für den Räuber der Farben? Dem wäre das doch zuzutrauen. Ich trau es ihm zu", meinte Erfried ernsthaft.

Ingomar wiegte den Kopf. "Das ist wirklich sehr unwahrscheinlich, junger Freund. Dieser Prediger wäre viel zu auffällig. Der rennt doch überall bibelschwingend Haustüren ein. Um so einen Quälgeist zu wählen, ist der Glanzdieb viel zu gewieft. Auch öffentlich sehr bekannte oder berühmte Leute fallen deshalb flach. Nein, es muss eine Person sein, die nicht unangenehm in Erscheinung tritt, auf ihre Art und Weise sogar ausgesprochen unauffällig ist. Und weil es mit dem Fluch des Inquisitors zusammenhängt, dürfte diese Person sogar ein Nachfahre dieses alten Teufels sein oder sonst eine seelenverwandte Ausgeburt der Hölle."



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Mannie Manie © 1999
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