"Egal, Erfried. Ich muss jetzt los. Vielleicht willst du ja mitkommen zum Training?"
"Nö! Auf Ringen habe ich keine Lust. Ich spiele doch lieber Handball."
"Das nützt dir doch nichts! Dafür nehmen die immer nur lang aufgeschossene Lulatsche. Und du bist kein so langer Lulatsch."
"Aber als Ringer geht's auch nicht."
"Na ja, stimmt vielleicht, wenn auch nicht wirklich. Im Federgewicht oder einer anderen Jugendklasse könntest du doch ganz gut mithalten. Das weiß ich schließlich." Gerd grinste den Jungen wieder an, zwinkerte mit einem Auge. "Jedenfalls muss ich leider los. Schau doch mal morgen oder die anderen Tage wieder her. Morgen habe ich wenigstens eine Stunde Zeit für dich, wenn ich nicht in die Kneipe gehe. Klar?"
"Ja, Gerd, das wäre toll!"
"Dann bis morgen oder so, tschüs!" Gerd winkte und lächelte breit, wobei er immer einen blinkenden Goldzahn sehen ließ. Dann verschwand er Richtung Vereinshaus. Letzteres lag weit abseits der Ladenstraßen hinter sehr weitläufiger Grünanlage jenseits Güterbahnhof.
Unschlüssig ging der Junge ziellos davon und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Zu Günter gehen, Sigurd lesen und neueste Scheiben des älteren Bruders anhören? - Nein, immer noch keinen Nerv dazu!
Ihn trieb anderes um, nachdem aus matt erhoffter Kurzweil mit dem viel älteren Gerd nichts wurde. Zwar vermutete er das ohnehin, wusste schließlich, Gerd habe heute wohl kaum Zeit. Doch, da er es gestern nicht in Anspruch nahm, ihn andere Dinge mit Beschlag belegten und immer noch gefangen hielten, versprach dies gute Abwechslung. Dauernd geisterte überwältigendes Erlebnis gewesenen Tages durch seinen Kopf.
Gedankenverloren setzte er einen Schritt vor den anderen. Einfach nur der Nase nach. Die verwinkelte Altstadt blieb zurück, Bäume und Sträucher säumten eingeschlagenen Weg. Häuser standen bereits in weitem Abstand oder verbargen ihre Außenflächen in Gärten. Kaum noch Autoverkehr. Unbewusst ging er längst Richtung Ronnburg. Erst als er weiter draußen zwischen hohen Hecken unübersichtlicher Kleingartenanlage aufmerkte, gewahrte er: Lang schon jenseits der kleinen Innenstadt!
"Soll ich dort wirklich heute schon wieder aufkreuzen?" fragte er laut, erschrak richtig über sein Selbstgespräch und blickte besorgt in die Runde. Hoffentlich hat mich keiner gehört! Man könnte ihn ja sonst für plemplem halten. Wer vor sich hinspricht, gilt allgemein als nicht ganz richtig im Oberstübchen. - Nichts und Niemand. Kaum eine Seele um diese Tageszeit in umliegenden Kleingärten.
Wie von Zauberhand geführt durchquerte er auch das kleine Waldstück, blieb an dessen Rand stehen, sah angestrengt zum Haus der Familie Perchten hinüber. Noch beinah zweihundert Meter entfernt wartete es im riesenhaft anmutenden Garten. Daneben, die von Bäumen und dichtem Gebüsch überwachsene vorgeschichtliche Ringwallburg. Haus und Garten verschmolzen damit.
Viel zu sehen gab es nicht. Hohe Bäume und umgrenzende Hecke am Zaun verdeckten fast alles. Nur da und dort lugte ein Stückchen hellere Hauswand oder Fensterteil durch spärliche Lücken im Grün. Auf dem Dach steilte jener peitschenartig aufragende Blitzableiter, von welchem Ingomar während des gestrigen schweren Gewitters beruhigend sprach. Sehr kühler Wind ließ frösteln. Fernab im Garten flatterten unruhig Äste und Blätter. Alles still. Kein Laut, keine Bewegung, gar nichts. Erdiger Geruch aus regennassen Wiesen. Wahrscheinlich sähe er sowieso nichts. Riesige Bäume und dichte Dornenhecken hinderten zuverlässig jeden Einblick. Außerdem stand er viel zu weit entfernt. Näher wagte er nicht.
Warum eigentlich nicht? - Weil du Ingomar damit womöglich auf die Nerven gehen könntest! antwortete sein Verstand. Ingomar sprach von übermorgen, also jetzt morgen, dann sei sein jüngerer Bruder höchstwahrscheinlich hier. Erfried mochte nicht aufdringlich erscheinen und Unwillen oder auch nur Stirnrunzeln ernten, was ihm von jemandem wie Ingomar besonders schmerzlich zukäme. Sein Gefühl wollte anderes, es zog und zerrte. Aber er widerstand der Versuchung.
Gegen alle Wünsche kehrte er um, ging langsam durch kleinen Wald und verwirrend angeordnete Gärten zurück. Wenigstens nahe gewesen, gleiche Luft geatmet, gleiche Vögel von fern zwitschern gehört, das Haus und die Bäume gesehen, gleichen Wind gespürt.
Geschäftiges Treiben und lärmender Autoverkehr füllte die lange Ladenstraße. Idiotenrennbahn! Grau und regnerisch drückte Himmel von oben herunter. Feucht stiegen bläulich Abgase, kitzelten in der Nase, reizten zum Niesen, kratzten im Hals, krochen tief in Lungen. Er musste kurz husten... besser.