"Ja, Mama! Wir mussten uns nach der großen Pause einen Film über die Gorch Fock ansehen und danach bekamen wir alle frei für heute."
"Erstaunlich, dass man danach frei bekommen muss. Wie war er denn?"
"Wer?"
"Na, der Film."
"Viel Wasser und flatternde Wäsche an Masten."
"Das haben die im Film festgehalten, aufgehängte Wäsche?"
"Na ja, die Unterwäsche der Matrosen war es nicht."
"So? Was dann?"
"Ich glaube, das nennt man auch Segel."
"Dich reizt die christliche Seefahrt nicht sonderlich, wie?" lachte sie, zum ersten Mal seit dem grauenvollen Abend.
"Nicht die Spur, Mama."
"Schön, Junge. Du musst es ja selbst wissen. Ich muss gleich weg zu Doktor Wappler. Dort wird am kommenden Sonntag eine Nachfeier zur Kommunion einer seiner Enkel stattfinden. Ich helfe bei den Vorbereitungen."
"Kommunion? Du meinst, Konfirmation."
"Nein, Junge. Das ist bei denen Kommunion, Weißer Sonntag. Wapplers sind eine der wenigen katholischen Familien hier."
"Richtig, Mama. Das hatte ich ganz vergessen. Wann kommt Reinhild?"
"Reinhild hatte auch schon Schulschluss und zu Mittag bekommen. Sie wird wohl den ganzen Nachmittag bei ihrer Freundin nebenan verbringen. Die hat schon wieder eine neue Puppe." Eleonore Gundeleit schüttelte missbilligend den Kopf. "Das Essen steht auf dem Herd, Erfried. Und mache bitte danach gleich deine Schularbeiten. Wann ich wieder zurück sein werde, weiß ich noch nicht genau. Aber Abend wird es bestimmt nicht. Auf Wiedersehen!" Sie winkte, lächelte gelöst und verschwand aus der Wohnung.
"Auf Wiedersehen, Mama!" rief er hinterher. Aber sie eilte bereits treppab, hörte ihn nicht.
Erfried schaute in die Töpfe: Kohlrouladen mit Salzkartoffeln und Sahnesoße! Versunken in bedrängende Gedanken aß er, merkte gar nicht, wie gut es eigentlich schmeckte. Danach ging er tatsächlich und ganz gegen sonstige Gewohnheit an seine Schularbeiten. Natürlich Rechnen, einziges Fach an diesem blauen Montag. Außerdem wollte er abgelenkt sein, denn er ahnte, ihm bliebe auf längere Sicht keine Wahl. Abermals ins Haus an der Ronnburg gehen! Nicht wegen vergessenem Schlüsselbund, sondern aus Zwang. Albenzwang. - Ich bin denen rettungslos ausgeliefert!
Niedergedrückt und zugleich sachlich gestand er diese Tatsache ein, packte seine Schulsachen weg und überlegte, ob er jetzt Günter Meinrad besuchen solle. Immerhin nicht allein, genoss er gewissen Schutz. Außerdem brächte Anhören neuer Scheiben von Günters Bruder auf andere Gedanken. Und andere Gedanken konnte er im Augenblick gut gebrauchen. Seine aussichtslose Lage würde nur noch schlimmer, grüble er ständig darüber. Und Grübeln ändere auch nichts. Wenn er wenigstens mit jemandem darüber sprechen könnte, um Hilfe bitten, dann...
Aber es gab niemanden, der ihn nicht sofort für einen Spinner hielte. Seiner Mutter konnte er nichts anvertrauen, so gern er wollte. Ganz genau spürte er deren Veränderung. Die Albenbrüder leisteten ganze Arbeit, nahmen sie offensichtlich vollständig ein. Unmöglich, ihr diese unwahrscheinlich klingende Geschichte auftischen. Kein Wort glaube sie ihm!
Auch Günter hielte es bestimmt nur für irrwitzigen Einfall, spannend selbst zurechtgelegt. Sie malten einander in den Jahren ihrer Freundschaft öfter ähnliche Sachen aus, erzählten bewusst erfundene Abenteuer. Günter sähe darin wahrscheinlich eher unterhaltsamen Anreiz und erfände irgendetwas gleicher Art.
Was sollte er also tun? Zum Pastor gehen? - Unsinn! Was sollte, was könnte der unternehmen, außer Beten und Bibelschwingen? Zudem sähe der sowieso alles als übertriebene Jungengeschichte an. Staubtrocken und stocknüchtern. Und wenn er zum katholischen Pastor gehe? Immerhin munkeln einige Leute, die römische Kirche habe von Dingen Kenntnis, welche streng geheim im Vatikan verborgen liegen.
Auch Blödsinn! Das sind Latrinenparolen und alles Quatsch! Darüber wüsste gewöhnlicher Himmelskomiker ohnehin nichts. Höchstens vielleicht ein Kardinal, falls es doch so sein sollte, was er aber tunlichst bezweifelte. Außer Weihwasser, Kruzifixe und lateinische Litaneien, bot der Papistenpfarrer nicht mehr. Obendrein ekliger Zeitgenosse wie er im Buche steht. Allenfalls triebe der noch eine Rotte betender Mönche irgendwo auf. Singend, leiernde Gebete murmelnd und einander geißelnd pilgerten sie dann zur Ronnburg.