"Also, das Böse schlechthin!" Plötzlich blass im Gesicht sah Erfried den jüngeren Mann an.
"Auf diese Weise kann man es wiederum auch nicht sagen, Erf. Der Glanzdieb ist nicht das vollkommene Böse. Das gibt's eh nicht, wie auch das Gegenteil nicht. - Das Böse, das Gute, das Edle! - Das sind reine Wortbegriffe. Als Eigenständigkeit genommen, bloß platte Vereinfachungen für Hirnlose und Dummköpfe. Sieh mal, wenn ständig Sonne schiene, dann verdorrt irgendwann alles, weil es so heiß wird, dass nichts mehr leben kann. Der Tag braucht die Nacht! Licht kann genauso übel sein wie Dunkelheit, in welcher alles vor Kälte erstarrt und stirbt. Solange in einer gewissen Bandbreite Ausgleich herrscht, greifen die Wächter nicht ein, hüten sich auch davor. Und dieser Schwarzalbe weiß ganz genau, wenn er die Waage vollständig in seine Richtung kippt, löscht er sich selbst mit aus. Und genau das wird er nicht tun. Er will grausame Rache! Ausgelöscht, kann er das nicht mehr. Er kennt sehr wohl so etwas, wie Treue und Zuneigung. Wollte er sonst den Fluch des Inquisitors erfüllen? Seinen Dienern verschafft er durchaus tiefste Genüsse und Befriedigung, hält zu ihnen, verteidigt sie wild entschlossen, verlangt das Gleiche von ihnen. Und wenn es nichts bringt, will er sich wenigstens für sie rächen. Natürlich macht er jetzt alles hauptsächlich aus verletzter Eitelkeit, weil ihm eine schmerzliche Niederlage, ein herber Verlust zugefügt wurde. Aber er tut es auch aus einem Verbundenheitsgefühl heraus, wie er es eben versteht."
"Ich glaube nicht, dass dieser Diener ein Nachfahre des Inquisitors ist. Die waren doch nicht verheiratet." Erfried blickte reichlich zweifelnd.
Ingomar lachte belustigt über Erfrieds gutgläubigen Einwand. "Na und? Um Kinder zu haben, braucht man doch nicht verheiratet sein. Das geht ganz von allein! Und diese Knilche haben wild rumgemacht, meist einen ganzen Stall voller Kinder in die Welt plumpsen lassen. Das hat man nur unter der Decke gehalten. Und heute redet man nicht gern darüber, weil es so peinlich ist. Doch, mein Lieber, der hatte mit Sicherheit Nachkommen! 'Unter Mönchskutten wachsen die dicksten Spargel!' ist ein italienisches Sprichwort. Aber es muss keineswegs unbedingt ein Nachkomme in Blutlinie sein. Seelen können auch woanders hinwandern und wiedergeboren werden."
"Ich weiß, wo der Räuber der Farben sein Versteck hat", meldete Erfried eifrig. "Am Brunnenplatz in einem uralten Haus hinter einem Tor. Da steht es in einem verwahrlosten Hinterhof, von außen kaum zu sehen. Dorthin verschwindet er oder unternimmt von da aus seine Streifzüge."
"Toll, was du schon alles herausgefunden hast! Um dieses Haus wissen die Wächter aber schon immer. Es ist das Haus, worin früher die Inquisition ihr blutiges Unwesen trieb. Leider ist es aber nicht zugleich das Tor. Das Tor des Glanzräubers wandert, ist mal hier, mal da. Auch immer wieder in diesem alten Bluthaus. Dort geschieht offenbar der Brückenschlag leichter, wird wohl auch der endgültige Übertritt finster stattfinden. Leider konnten wir noch nicht die Person ausfindig machen, die ihm dient. Und es muss nicht unbedingt nur eine Person sein."
"Es gibt noch eine Frau! Ich habe sie auf der Straße gesehen. Sie scheint mir die weibliche Ausgabe des Glanzdiebs, ist aber wohl noch nicht richtig und voll dazu geworden. Wohnen tut sie im kleinen Parkviertel. Da ist so ein neuer und ziemlich hässlicher Bungalow auf einem Hügel. Dort sah ich sie zum zweiten Mal." Jetzt eifrig bei der Sache, wichen dem Jungen fast alle Bedenken gegen Ingomar und seine Leute. - Fast, aber nicht völlig.
"Das ist wirklich eine Neuigkeit! Und du bist dir sicher, dass sie vom gleichen Schlag sein muss? Kein Zweifel?" Ingomar staunte.
"Ganz sicher! Ich konnte ja beide sehen. Sie haben die gleiche räubernde Eigenschaft, dieselben saugschwarzen Augen. Zuerst dachte ich ja auch, es könnte eine Täuschung sein und sie trage eine Sonnenbrille. Aber dann erkannte ich das ganz genau. Ich täusche mich nicht."
"Hm... der Hügel im kleinen Parkviertel war früher Richtplatz. Dort hat man Hexen und Ketzer verbrannt. Das könnte also durchaus auch eine Übergangsstelle sein. Dann ist der Glanzdieb unbemerkt schon ein Stück weiter vorangekommen als wir dachten." Ingomar klang besorgt. "Ich werde mir das gleich mal ansehen..." Er verstummte abrupt, sah sichernd herum, seine Augen wurden starr. Blick nach innen gekehrt. Zähe Weile. Langsam öffnete der jüngere Mann die Lippen. "Er ist in der Nähe!"
"Was? Wer?" fragte Erfried beunruhigt über dessen seltsamen Zustand.
"Der Glanzdieb! Ganz in der Nähe auf Streifzug!"
Angstvoll äugte der Junge unauffällig nach allen Seiten, wollte trotz heißem Furchtgefühl gleichmütig erscheinen. - Dann sah er ihn! - Auf anderer Straßenseite, jenseits unausgesetzt grollenden Verkehrs, stand hochgewachsen und regungslos der Räuber der Farben. Durchdringend kalter Schwarzblick.