Nachdem sie keuchend wieder Luft holen konnte, warf sie noch am Boden liegend die Haustür ins Schloss. Zitternd hangelte sie an einer Wand hoch, machte zuerst kein Licht. Dann kam der Gedanke, Licht sei womöglich beste Hilfe gegen solche Schatten.
Blind tastete sie umher, fand schließlich den Schalter, seufzte laut und erleichtert, nachdem Lichtflut enges Treppenhaus erhellte. Und obwohl sie unbewusst ahnte, gesehene Gestalt könne nichts wirklich aussperren, verriegelte sie die Haustür gleich doppelt. Wenn es ginge, schweren Schrank davorschieben. Aber hier stand erstens keiner, und zweitens gelänge es allein ohnehin nicht. Angstvoll stieg sie Treppen zur kleinen Wohnung hinauf, sah nach Reinhild, bereitete ihr Bett im selben Zimmer, wagte nicht in Schlaf.
Irgendwann versank sie traumlos bleiern, erwachte am frühen Morgen, stand leise auf, machte Frühstück. Nahe Kirchenglocken beruhigten, trotzt dringlichen Geläutes. Reinhild erwachte mittlerweile gleichfalls vom sonntäglichen Gelärme aus steinalten und neueren Türmen. Ungewohnt schweigsam verlief gemeinsame Morgenmahlzeit. Dann gingen sie zur Kirche. Reinhild gab sie in der Kinderkirche ab.
Selbst folgte sie anderen Gläubigen unter unablässigen Orgelklängen ins widerhallende Kirchenschiff. Hustende Stille lähmte dort nach schier ohrenbetäubend ausschweifender Zeit. Erste Worte des Pastors brachen durch, riefen zum Gebet, welches aus säuselnden Lüftchen zu abgehackt wildem Wind entglitt, schließlich in brausendes 'Amen' endete, wonach ein erzwinglich Lied geboten.
Seit schrecklichem Krieg eigener Jugendtage dem Gottesdienst nur selten so inbrünstig hingegeben. Sie betete unablässig wie eine Irre, bis ihr zuletzt ganz schwindlig wurde und Kirchenbänke im Viereck sprangen. Schauerlich heulte riesige Orgel im Hintergrund und Altarkerzen flackerten furchtbar. Wachstropfen erstarrten auf weißem Tuch darunter.
Vergleichbar dem gestern gesehenen finsteren Fremden, rauschte der Pastor in schwarzem Amtsornat durch breiten Mittelgang, verschwand wie ein dumpfer Geist im hallenden Hintergrund. Sie bemerkte das Gottesdienstende erst gar nicht, blieb allein zurück. Schließlich verloschen überdicke Kerzen. Der bucklige Küster klaubte Hinterlassenschaften zusammen, sah wunderlich angerührt zur einsamen Frauengestalt inmitten langer Bankreihen. Dessen herausquellende Augen blieben lang an ihr haften, bis er endlich mit Stapel fledriger Gesangbücher beladen hinkend in die Sakristei abtauchte. Draußen wartete Reinhild bereits sehr ungeduldig.
Um Erfried hegte sie kaum Sorgen, wähnte ihn in Sicherheit großer Gesellschaft. Obwohl ihr diese anrüchig schien. Nach den Auskünften des altgedienten Polizeibeamten gestern abend, wollte sie ihrem jüngsten Sohn eigentlich ins Gewissen reden. Sogar Umgang mit dem Haus Perchten verbieten, falls gar nichts anderes helfe. Mittlerweile allerdings nicht mehr. Und nun stand er in unglaublichem Zustand vor ihr, ohne seine Schlüssel. Ihre einzigen Worte: "Wie siehst du denn aus?"
Sofort bemerkte Erfried einschneidende Veränderung seiner Mutter, wusste im gleichen Augenblick, er könne ihr jetzt auf keinen Fall alles sagen. "Ich bin auf dem Weg hierher in die Büsche gefallen, Mama."
"Und wo hast du deine Schlüssel gelassen?"
"Die habe ich wohl bei Perchtens vergessen." Oder während abenteuerlicher Flucht verloren? - Nein! wusste er dann sicher, den Bund habe ich gar nicht eingesteckt, einfach im Albenhaus liegen lassen. Jetzt können sie jederzeit herkommen, vollkommen ungehindert.
"Na, dann kannst du ihn ja noch heute oder morgen holen. Nimm solange den Ersatzschlüsselbund. Vielleicht bringen diese netten Herrschaften deinen Schlüsselbund auch vorbei, wenn sie ihn finden. Deine neuen Freunde, Gundram und sein älterer Bruder Ingomar, waren übrigens vor einer knappen Stunde hier und sagten Bescheid, dass du heute lange geschlafen hast und erst später kämst. Sehr liebenswürdige und wohlerzogene nette junge Leute! Endlich mal ein wirklich guter Umgang für dich. Mit der Familie Meinrad habe ich da so meine Schwierigkeiten, wie du weißt. Und jetzt aber ab, junger Mann! Wasch' dich und zieh dich um. Du siehst ja aus wie ein Landstreicher."
"Ja, Mama", brachte er noch knapp heraus, erkannte deren unumkehrbare Veränderung.
Die Alben kamen ihm zuvor, ließen ihren gesamten tückisch berückenden Reiz spielen, wickelten seine Mutter ein oder besetzten gleich deren Gedanken. In ihr fand er keine Verbündete. Ihr könnte er nichts erzählen. Sie würde ihm nicht glauben oder überhaupt nicht zuhören wollen, ihn der Verleumdung verdächtigen.
Bedrückt zog er verdreckte und beschädigte Kleidungsstücke aus, wusch Schmutz ab und zog frisches Zeug an. Reinhilds fröhliches Geplapper rauschte ungehört vorbei. Tiefes Loch klaffte in seiner Seele. Es konnte durch nichts ausgefüllt werden. Nie wieder.
Ich bin ein Fremder in meiner bisher gehüteten kleinen Welt geworden, stellte der Junge schmerzlich fest. Vom Alp geritzte Wunde brannte am Arm. - Kindheit endgültig vorbei.