Erfried erwachte aus jagenden Gedanken und Fragen, welche stets zur falschen Zeit überfielen. So auch jetzt. Der dunkle Fremde blieb verschwunden. Vor ihm dürfte er derzeit wohl sicher sein. Rasch wandte er in Richtung seines eigentlichen Ziels, zum Rathaus, zur Stadtbücherei. Kaum in die Straßeneinmündung abgebogen, rempelte er beinah in auffallend merkwürdig gekleidete Frau. Sie stand unmittelbar hinter der Ecke, hielt verbissen 'Wachturm' und 'Erwachet' hoch.
Gedankenverloren langte Erfried am Eingang der Stadtbücherei an, starrte auf das Schild hinter Glas. Erst jetzt drang ins Bewusstsein, was fette Lettern allgemein verkündeten: GESCHLOSSEN! Ab Freitagmittag längst zu, öffnete die Stadtbücherei erst Montag wieder dickglasige Türen.
Und dafür den ganzen Weg gemacht, fast vom Dieb des Glanzes erwischt! Voller Ärger stand Erfried unschlüssig herum. - Vielleicht könnte Frau Zeisig in der kleinen Buchhandlung weiterhelfen? Deren Buchladen lag in Richtung des Bahnhofs. Entschlossen ging er los.
Misstrauisch, vorsichtig bis angstvoll, besah er jedes entgegenkommende Augenpaar, hielt beständig Ausschau nach der dunklen hohen Gestalt des Räubers der Farben. Glücklicherweise nichts dieser Art entdeckt. Voraus schimmerten bereits beide schmale Schaufenster der Buchhandlung. Bewegung dahinter. Mittagspause machten die nicht oder beendeten sie schon. Einige Leute kamen heraus, gingen zielstrebig irgendwohin. Hinter Ladentürglas erschien kurz das Gesicht der alten Buchhändlerin. Ihr gehörte dies kleine Unternehmen.
Zur anderen Straßenseite musste er, sah rasch nach, ob auch kein Auto heranbrauste, machte ersten Schritt... verhielt plötzlich, trat sofort wieder zurück.
Harte Umrisse einer Frau. Sie stand vor Auslagen des Feinkostgeschäfts neben der Buchhandlung, vollführte langsame Wendung, blickte herüber. Kalt überlief es ihn. Vollkommen schwarze Augen! Noch einmal sah er genau hin. - Nein, sie trug keine Sonnenbrille! Und auch sein Eindruck, von der Frau strahle Dunkelheit ab, trog nicht. Sie zeigte Eigenschaften des Glanzräubers, allerdings lange nicht so ausgeprägt.
Eine Diebin des Glanzes, Räuberin der Farben? Ist solche Augenschwärze übertragbar, ansteckend? Erfasst beängstigender Zustand laufend mehr Menschen? Oder gelangten Lebewesen mit vollkommen schwarzen Augäpfeln jetzt nach und nach in die kleine Stadt? Woher kamen sie? Und was wollten sie? Finden diese schaurigen Geschöpfe in Farben, im Glanz, in Lebensausstrahlung normaler Menschen notwendige Nahrung?
Erfried fror innerlich. - Eine Gruppe junger Leute näherte drüben, verdeckte erspähte Frau. Nachdem sie vorbeigingen... Verschwunden!
Tauchten die 'Anderen', die Dunklen, zwischen Menschen oder im Licht unter? Ihr bestes Versteck? Aber warum fiel es nur ihm auf? Die jungen Leute mussten doch merken, wenn mitten unter ihnen plötzlich jemand fremdes lief?
Vielleicht habe ich mich eben nur getäuscht, wie im Garten bei der Ronnburg, wo ich beim plötzlichen Anblick Frau Perchtens so peinlich erschrak. Womöglich trug diese Frau gleichfalls eine Sonnenbrille. Ich bin dermaßen durcheinander, sehe deshalb an jeder Ecke etwas, was dann gar nicht so ist. - Erfried zuckte mit den Schultern und wechselte nach misstrauischem Rundblick zur anderen Straßenseite.
Drüben angekommen, sah er nach links. Dort lockte das Feinkostgeschäft mit Auslagen. Die jungen Leute standen noch kurz beieinander, dann schlugen sie einzeln, zu zweit oder zu dritt andere Richtungen ein. Aber die Frau blieb spurlos verschwunden. Kopfschüttelnd betrat Erfried merkwürdig trocken riechende Welt aus Bänden voller Gedrucktem. Selbsttätige Glocke über der Eingangstür verkündete Geruchsmischung aus Buchbinderleim, Druckerfarben und Kunststoffen der Einbandfolien.
Im leicht muffig dunklerem Hintergrund erschien die alte Buchhändlerin, kam auf ihn zu und lächelte freundlich. "Guten Tag, junger Mann! Was soll es denn sein?"
"Guten Tag, Frau Zeisig! Ich wollte sie eigentlich nur wegen einer Sache um Rat fragen, weil ich mir ein solches Buch bei meinem Taschengeld bestimmt nicht leisten kann."
"Nun, wir werden sehen, junger Mann", lachte Frau Zeisig gutgelaunt. "Worum geht es denn?"
"Ich wollte mehr über die alte Ronnburg und die Umgebung und ihre Geschichte erfahren. In der Schulbücherei ist wahrscheinlich nichts, und die Stadtbücherei hat schon zu."