Aufmerksam blickte ihm Ingomar ins Gesicht. "Du hast Angst, bist immer noch nicht überzeugt, stimmt's?" Erfried nickte lediglich stumm. "Kann ich dir nach all dem auch nicht verdenken. Dieser bescheuerte Gundram! Dass der auch einen solchen Mist veranstalten musste, anstatt gleich oder wenigstens nach und nach alles zügig klarzustellen. Dazu hätte er wirklich genug Zeit gehabt, dieser kindsköpfige Blödian!"
"Tja, lieber Ingomar", sagte der Junge bedächtig, "du kannst mir auch viel erzählen und so tun, als sei es alles ganz anders. Aber wie kann ich mir darin sicher sein? Vorhin sah ich etwas, das du machtest, wofür ich keine Erklärung finde. Was ist, wenn du doch ein Schwarzalp bist?"
Ernst antwortete der jüngere Mann: "Dann säßest du schon längst hier drin, würdest diese Fragen nicht stellen. Hätte ich das vor, wovor du dich mit Recht fürchtest, dann bliebe dir keine Wahl und kein Widerspruch. Vielleicht tobte es in deinem Inneren wie wild herum, aber mein Wille würde deinen Körper lenken. Selbstverständlich zwinge ich dich nicht, mitzukommen. Überlege mal! Wollte ich dich irgendwie versklaven oder so was, dann machte ich mir erst gar nicht groß die Mühe, dich zu überzeugen. Ich würde dich einfach entführen. Fiele mir wirklich nicht schwer."
"Du hast recht", murmelte der Junge nach einigem Bedenken und schwang ins Wageninnere.
"Was habe ich denn deiner Ansicht nach gemacht vorhin?"
"Du hast ein seltsam flimmerndes Feld um dich gehabt, das sengend heiß war und sich zwischen uns und den Glanzdieb schob."
"Oha! Das konntest du also auch sehen", stellte Ingomar erstaunt und bewundernd fest. "Ich sagte ja auch, Erf, dass wir keine gewöhnlichen Leute sind. Wächter werden nur diejenigen, die entsprechende Fähigkeiten aufweisen. Wie sollte man sonst ein Tor in andere Weltenebenen bewachen und sperren können?"
"Ja, das stimmt natürlich. Ich habe das nur noch nie so erlebt. Ist doch alles völlig neu für mich. Noch vor einer Woche hätte ich es selber als Spinnerei abgetan."
"Leider blieb mir keine Zeit, dich darauf vorbereiten oder 'Achtung' rufen, weil ich schnell sein musste", meinte Ingomar entschuldigend. "Ich bin auch nicht unbedingt in der Lage, den Glanzdieb in seiner fortgeschrittenen Entfaltung allein zu stoppen. Noch geht es. Aber was ist, wenn er ganz herüber ist? Da komme auch ich ins Schwimmen, weil ich damit kaum Erfahrung habe."
"Ist gut, Ingomar. Fahren wir los." Erfried knallte die Tür der schweren Limousine zu.
Ingomar lenkte aus dem Parkplatz in Straßen, welche nach einigen Windungen und Ecken zu winkligen Gassen alter Innenstadt führten. Draußen flitzten abwechselnd Häuser, Bäume und Leute vorbei. Auch das neuere Kino am diesem Ende der Idiotenrennbahn kam kurz ins Blickfeld. Zur Zeit lief dort 'Der Fluch von Siniestro', eine spanische Wehrwolfsgeschichte. Nicht übermäßig gut gemacht, wie Erfried bereits von anderen erfuhr. Ingomar steuerte über buckelpflastrigen Marktplatz
In Erfried blitzte plötzlich misstrauischer Gedanke. "Sag mal, wieso muss Gundram nicht zur Schule? Jetzt sind doch noch gar keine Ferien."
Kurz wandte Ingomar herum, sah dann sofort wieder geradeaus. "Doch, der hat Ferien. Die großen Ferien sind's natürlich noch nicht. Gundram geht auf eine freie Schule. Da ist oft den ganzen Tag Pauken angesagt, weshalb sie immer wieder mal eine oder anderthalb Wochen frei bekommen. Freie oder private Schulen legen ihre Ferien nach eigenem Maßstab. Solche Einrichtungen müssen nur staatliche Bildungsvorgaben gewährleisten. Sonst können die alles so gestalten, wie sie wollen."
Einleuchtend. Oberlehrer Mantey erwähnte angelegentlich, Eltern dürften selbst den Unterricht durchführen oder Privatlehrern überlassen. Rein theoretisch natürlich, wenn entsprechende Eignung vorliegt oder notwendiges Kleingeld. "Oh, freie Schule! Eine Privatschule! Sehr nobel!" staunte der Junge. "Ist das nicht teuer?"
"Billig ist es nicht, wie ich weiß. Aber riesig reich muss man dafür wiederum auch nicht sein. Auch du könntest auf so eine Schule gehen, wenn ein Förderer das Schulgeld als Stipendium spendet. Dafür gibt es bei den meisten freien Schulen einen besonderen Förderausschuss. Auch bei der Schule, auf die Gundram geht. Bei Gelegenheit sollten wir mal dort vorfühlen. Du bist ein heller Kopf, Junge. Auf dieser staatlichen Massenschule hier versauerst du doch nur."
"Du bist schon der zweite, der mich auf eine andere Schule bringen will. Vielleicht will ich von meinen Schulkameraden gar nicht weg?"
"Dort findest du bestimmt viele neue und nette Freunde. Wer ist deshalb denn sonst schon an dich herangetreten?"
"Die alte Gräfin Dahlendorf meinte, sie wolle sich dafür verwenden, dass ich womöglich aufs Gymnasium in der Kreisstadt gehen kann. Uns fehlt es nämlich in der Haushaltskasse für die Lernmittel und das ständige Fahrgeld. Außerdem bräuchte ich ja viel mehr Taschengeld für Essen, wenn ich nicht Zuhause essen kann."