Doch das sind müßige Überlegungen. Bei keinem von denen konnte ich mir mehr vorstellen. Schon gar keine Bettgeschichte. Wozu jemand Überdrehtes, wenn eine Frau meist weniger zickig? Aber Jahre zuvor weckte jener Klassenkamerad ähnliche Wünsche in mir, weshalb ich niemanden nur wegen solcher Neigung verachte. Auch komme ich nicht mit gewohnt dusseliger Ausrede daher, wir seien damals erst dreizehn gewesen. Wir waren alt genug, um zu wissen!
Meine Güte! Wie lange erinnerte ich mich an all das nicht mehr? Mit den Jahren flachte es ab, versank im Hintergrund. Vergangenheit! So gekommen, wie es kam und musste wohl so sein. - Noch immer in leichter Wehmut befangen, schlenderte ich zur hässlichen Kollage am Gangende. Etwas staubig und vergilbt, schien sie an einigen Stellen äußerst sorgfältig ausgebessert.
So ein altes Zeug! Ich schüttelte den Kopf, fand die Mühen dennoch rührend. Wahrlich kein ansehnliches Kunstwerk. Einfallslos geklebte Figuren erinnerten an langbeinige Krakeleien, eine Zeit lang von nichts könnenden Schmierfinken eifrig auf Mauerflächen gesprüht. "Killroy was here!" stand meist darunter. Heutige sogenannte Sprayer sind zumeist nicht besser. Und diejenigen, welche wirklich was drauf haben, gehen im Wirrsal umgebender Krakelei unter. Mittlerweile glaubt ja jeder oder jede, sobald man Farbsprühdosen bedienen könne, vermöge man auch was Gescheites. Leider sehr dumme Überschätzung, wie miserable Verunzierungen an Wänden schlagend beweisen. Wieso üben die nicht erst einmal an weniger peinlichen Stellen?
Meine damals ungegenständlich erzeugten Muster entdeckte ich selbstverständlich sofort. Das ganze 'Kunstwerk' maß etwa drei Meter Breite und über zwei Meter Höhe. Auch mag ich eigenen Anteil nicht sonderlich 'kreativ' einordnen. Trotzdem bin ich der Ansicht, die von mir geklebten Muster seien immer noch besser als alles andere drum herum. Einzig ein merkwürdig starres Gesicht in rechter unterer Hälfte stach aus allgemeinem Wust. Völlig unbekannt aber jetzt seltsam beeindruckend. Dann fiel mir ein, besagter Schulkamerad brachte dies als seinen Anteil auf jene große Fläche aus Kunststoff.
Ich beugte herunter und nahm es genauer in Augenschein. - Richtige Augen hatte das Antlitz nicht. In tiefem Schwarz gehalten, blieben es trotzdem echte Augen. Mögliche Haare nur angedeutet, aber das konnte täuschen. Insgesamt knochig. Nach längerer Betrachtung meinte man, den Tod selbst anzuschauen. Der Mund wirkte schmallippig, leicht geöffnet, als wolle die dargestellte Person etwas mitteilen. Oder aufnehmen, essen, saugen, trinken? Womöglich schreien?
Selten zuvor sah ich mir solches derart genau an. Es gab auch nur wenig, was dazu verleitete. Dies hier schon. Wie von geheimnisvoller Kraft auf dieses Gesicht gebannt, starrte ich eingefangen darauf. Ausnehmend unbequeme Stellung.
Das einzige von jenem Schulkameraden herrührende! Mir kam es jetzt wie eine Botschaft vor, damals nicht verstandener Hilferuf. Erneut kehrte eben erst gewichene Wehmut zurück, mitsamt seinem Jungengesicht, seiner ganzen Gestalt und Art. Wieder sah ich ihn mit der Schulmappe in Armen an der Allee stehen, wo wir uns so oft voneinander verabschiedeten. Von dort an gingen wir in etwas abweichende Richtung nach Hause.
Lange in gebeugter Haltung, tat mir mein Rücken allmählich weh. Ich richtete mich wieder auf und... fuhr erschrocken zusammen!
Neben mir stand aus dem Kunststoffboden dunkel geborene Gestalt. Mit Lautlosigkeit einer Katze gekommen! Ich hörte niemanden. Oder nur nichts wahrgenommen, weil das ausdrucksstarke Gesicht in der alten Kollage so sehr einfing? - Egal!
"Oh, das tut mir leid, wenn ich sie erschreckt habe. Das war nicht meine Absicht. Bitte entschuldigen sie!"
Ein Mann zweifellos. Auch eigentümlich schlanke Statur verriet es. Sein Gesicht lag im Schatten. Dennoch erkannte ich einnehmendes Lächeln. Wahrscheinlich einer der Lehrer hier, aus irgendeinem offenen Klassenraum herausgekommen. "Ist schon in Ordnung. Ich war so vertieft, dass ich einfach nichts mitbekam."
"Ja, das habe ich bemerkt. Selten schaut sich jemand diese alte Kollage eingehend an. Deshalb fielen sie mir auf. Zum Haus gehören sie ja nicht."
"Nein", lachte ich. "Allerdings gehörte ich einmal auf gewisse Weise zum Haus. Ich bin hier nämlich in die Schule gegangen. Aber ich wohne schon lange nicht mehr am Ort."
"Ah ja!" Seine Stimme klang angenehm, hallte aber hohl im weiten Gangverlauf wider, obgleich er nicht laut sprach. "Und da haben sie nun endlich die Gelegenheit wahrgenommen, dieses große Bildnis einmal genauer anzuschauen. Möchten sie etwas darüber erfahren? Ich kann ihnen gern einiges Wissenswertes erzählen."
"Bitte halten sie mich nicht für unfreundlich, mein Herr. Aber ich glaube kaum, dass sie mir dazu viel neues sagen können. Das hier...", ich wies mit meiner Rechten auf die Muster. "...ist von mir. Ich war damals an der Herstellung dieses etwas sonderlichen Werkes beteiligt."
"Sonderliches Werk! Das haben sie schön gesagt", lachte der andere. Sein Gesicht erstrahlte förmlich, bekam einen Schimmer, obwohl es weiterhin verschattet lag. "Aber sie haben etwas darauf entdeckt, das ihnen damals offenbar entgangen, nicht wahr?"