Gelöstheit des Augenblicks fortgeblasen. Eiskalt lief es ihm am Rücken herunter. Im Nacken sträubten kurz geschorene Haare. Furcht beschlich. Auch Furcht vor dieser sonst so angenehm erscheinenden Frau. Er musste hier weg, wollte er dem herankriechenden Unbestimmbaren entkommen! Tief verunsichert sah er in Frau Perchtens grünliche Augen. - Wie Ingomars Augen. Und sie sah ihn jetzt auch genauso an, wie Ingomar vor Tagen, als er gleichlautende Warnung aussprach. Dieselben Worte!
Mühsam gesammelt fragte er: "Was meinen sie damit, Frau Perchten? Schon Ingomar sagte mir etwas ganz ähnliches."
"Du bist jemand, der wissen will. Und du hast die Augen des beginnenden Wissens. Ich sehe auch, dass du schon mehr weißt, als in kurzer Lebenszeit verträglich. Andere, die innerlich nicht so stark sind wie du, zerbrechen daran. Lasse dich warnen von einer erfahrenen Frau! Zuviel in zu kurzer Zeit kann üble Folgen nach sich ziehen!"
"Bin ich aufdringlich geworden mit meinen Fragen? Habe ich mich irgendwie daneben benommen, Frau Perchten? Das täte mir leid. Bitte entschuldigen sie!"
"Nein, Erf! Nichts davon. Du hast nichts falsch gemacht, bist überhaupt nicht unhöflich gewesen oder so. Entschuldigen musst du dich auch nicht bei mir. Aber echtes Wissen muss man auf sich zukommen lassen, sollte es nicht hineinstopfen. Du musst erst bisher gefundene Dinge verstehen, bevor du dazugehörende weitere Wahrheiten richtig zuordnen kannst. Das hat nichts mit deinen jungen Jahren oder mit fehlenden geistigen Fähigkeiten oder mangelndem Verstand zu tun. An Verstandesfähigkeit gebricht es dir ganz sicher nicht. Es sind gewaltige Dinge, nach denen du seit einiger Zeit dich und andere unbefangen fragst. Sie sind so gewaltig, dass sie Menschenwesen erdrücken können. Lerne warten, dann hat deine Seele die nötige Zeit. Und zur Zeit naht bei Tag eine Dunkelung..."
Eisiger Schauder befiel Erfried. Frau Perchten ließ ihren letzten Satz auf eine Weise unvollendet ausklingen, die beängstigend an den Schrecken gemahnte, als er sie vorhin mit dem Räuber der Farben verwechselte.
Wirklich verwechselt? Kamen die Eindrücke vielleicht durch ungeahnte Verflechtungen oder Gleichheiten zustande? Hat der Dieb des Glanzes mit diesem Haus und dessen Bewohnern Verbindung?
Selbst bemerkte er besagte Dunkelung auch, wollte sie nur nicht wahrhaben, in junger Unbekümmertheit jedes Mal rasch beiseite gescheucht. Nun gelang es nicht mehr. Etwas drang in sein Leben, dessen er nicht Herr würde. Und das lag nicht an eigener Wandlung aus dem Jungenalter heraus.
"Die Sonne beginnt auch schon langsam zu sinken", warf er unsicher ein. "Ich sollte vielleicht doch allmählich aufbrechen, Frau Perchten. Vielen Dank auch für ihre nette Einladung zum Tee."
"Du bist aber ganz herzlich eingeladen wiederzukommen. Ich glaube sicher, Gundram würde sich gern mit dir anfreunden. Und unser Frecke mag dich schon die ganze Zeit. Ich übrigens auch!"
"Sie sind wirklich zu freundlich. Dankeschön!" Er stand auf.
Ihr die Hand reichen kostete etwas Überwindung, obgleich nichts an ihr eklig oder irgendwie ersichtlich unangenehm. Augenscheinlich genaues Gegenteil. - Eben, augenscheinlich! warnte von innen. Trotzdem streckte er seine kräftige Jungenhand hin, leicht aber spürbar von ihr angenommen. Seltsam kribbelnder Strom floss herüber. An ihrer gepflegten Linken fiel erst jetzt ungewöhnlich langer Nagel des kleinen Fingers auf. - Sie auch! - Wegen allgemein längerer Fingernägel, üblich bei vielen Frauen, sprang es nicht derart deutlich ins Auge wie bei Ingomar. Rascher als sonst der Höflichkeit angemessen zog er seine Hand zurück, machte wohlerzogenen Diener und ging in überlegten Schritten zum Gattertor.
Erfried mochte nicht schnell laufen, den Eindruck von Flucht hinterlassen. Diese Blöße wollte er nicht geben, spürte aber verfolgenden Blick im Rücken. Forschende Augen brannten geradezu in die Wirbelsäule. Unwillkürlich beschleunigte er, erreichte aufatmend das Tor in Hecken, schrak zusammen, als Frecke der Bernhardiner wie aus dem Boden gewachsen neben einem Busch auftauchte. Das gewaltige Tier sah unentwegt herüber, trottete näher, stupste ihn mit weicher Schnauze und wuffte leise. Gewöhnliches Hundewesen ohne üble Absichten oder unheimliche Anwandlung.