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Abermal, Kapitel 29, Seite 08

flackert


Erfried erkannte hebräische Schriftzeichen. Innerhalb doppeltem Umrandungskreis mehrfach im Teppichrund eingewoben. An sich fand er die kunstvollen hebräischen Buchstaben immer sehr schön in ihrer schwungvollen und zugleich bedeutungsreichen Art. Noch nie bemerkte er darin etwas, das Widerwillen oder gar Angst hervorriefe. - Hier anders! - Offensichtlich dunkler Gebrauch, vorsätzlicher Missbrauch alter Hebräerschrift zu wenig erfreulichem Zweck.

Krankheit und Finsternis strahlten von zehn äußeren und sieben inneren Zeichen. Jedes saugte Kräfte an, sogleich wieder schadend ausgestoßen. Stünden diese kunstreichen Marken allein oder sonst wo und in anderem Zusammenhang, dann wirkten sie sicherlich schön. - Hier nicht!

"Was ist Kabbala?" Erfried hörte den Begriff schon einmal, wusste aber nichts Näheres.

"Eigentlich eine harmlose Buchstabenmagie, ein Merk- und Weisheitssystem der jüdischen Rabbiner. Sie ist verwandt mit unserem Runenzauber. Die Kabbala dient ähnlichen Zwecken, dürfte jedoch nicht ganz so weit in die Vergangenheit zurückreichen. Höchstens dreitausend Jahre. Sie gründet auf den Zahlen Zehn und Sieben. In der Kabbala spielt die krumme Zahl Sieben eine bedeutende Rolle. Aber, um die Kabbala hinreichend zu erklären, fehlt uns jetzt die Zeit. Und wie alles, kann sie zu guten oder üblen Zwecken eingesetzt werden. Den üblen Zweck haben wir hier vor uns."

"Das hier ist es auch, was ich die ganze Zeit gefühlt habe", bestätigte Ingomar ernst.

"Und was ist nun mit dem Sessel und dem Teppich so besonders?" Erfried verstand eben gehörte Ausführungen nicht ganz. Wissbegierig schaute er den Träger der schwarzen Kutte an.

"Der Teppich ist in seiner gesamten Machart ein Rufkreis für Mächte aus anderen Weltebenen. Er ähnelt dem Siegel, das ich in der Gruft des Inquisitors hinterließ. Der Sessel ist mit Sitzrichtung nach Süden ausgerichtet, steht entgegen dem Erdmagnetfeld, das in unseren Breiten immer nach Norden weist. Allein dadurch wird eine Umkehrung der Dinge erreicht. Alles weitere behelfen die zehn Kabbalazeichen im äußeren Gürtel des Teppichs und die sieben zugesetzten, unmittelbar am Sessel selbst. Hier wurde die Brücke für den Lichtfraß, den Dieb des Glanzes, für den Räuber der Farben geschlagen."

"Kannst du das nicht sperren und ein Siegel anbringen?" wollte Gundram aufgeregt wissen.

"Nein, nicht mit einem Siegel! Das ist hier selber kein Tor, kein eigentlicher Durchgang. Den wirklichen Durchgang, die Brücke also, bildet der Brückendiener. Sperren kann man hier schon. Aber diese Sperre hält nicht lange vor, wird nach gewisser Dauer ganz sicher durchbrochen. Leider wird diese Zeit nicht sehr lange währen."

"Zumindest werden wir dadurch etwas Zeit gewinnen", meinte Ingomar wenig fröhlich.

"Wir sollten endlich mit den ausgedehnten Erörterungen aufhören! Wir machen doch gerade keine Unterrichtsstunde", verlangte Herwig Perchten ungeduldig. "Die Runen, die Kabbala und all das andere wird unser junger Freund künftig noch oft genug um die Ohren bekommen. Also, mach' bitte mal endlich voran, Werner. Jetzt ist einfach nicht die Zeit für lange Reden und Erklärungen. Bald geht diese Nacht zu Ende!"

"Du hast recht", nickte Werner Lübbers. "Tretet alle ein Stück vom Teppich zurück. Ich brauche etwas mehr Platz drum herum. Macht eure Lampen aus. Gundram, du leuchtest mir bitte."

Vor offenstehender Tür zum Dachboden standen alle in Reihe, sahen ihn dreimal entgegen Uhrzeigersinn um den Kabbalateppich gehen. Zur Sitzfläche des Sessels machte Werner Lübbers knappe Bewegung beider Arme. Wie herbeigezaubert erschien der Zungendolch in seiner Rechten. Gleichzeitig wies langer Fingernagel linken kleinen Fingers in Blickrichtung. So blieb er stehen, während Gundram allein die Raummitte ausleuchtete. Ringsum tiefes Schweigen. Selbst von draußen kein Geräusch.

Endlich vollführte der Kuttenträger mit dem Zungendolch dreifach kreuzartige Bewegungen über Sessel und Teppich, umrundete abermals, führte zugleich die Klinge am Kreisrand kabbalistischer Zeichen entlang. Irgendwo in Kuttentiefen ließ er den Zungendolch plötzlich verschwinden, beugte herunter. Sein langer Fingernagel zog vorher gezogenen Kreis bedacht nach.

Schwach glimmten berührte Abstände. Vollendet leuchteten Kreis und vorher sechsendig in Luft geritztes Kreuz. Bleich sank kaum sichtbare Glocke über Sessel und Kabbalateppich. Seidiges Gespinst hüllte. Unerfindlicher Quelle entsprang sirrender Ton, hing fein aber deutlich im Raum, erlangte schier Gestalt. Klang schwoll, schwang höher, wandelte in Pfeifen, stieg weiter, bald unerträglich. Sacht dünnte es zum ursprünglichen Sirren herab, verstummte schließlich. - Alles still. Keine Bewegung. Lediglich kleiner Lichtkegel aus Gundrams Lampe tanzte leicht. Verschwommene Einzelheiten hinter feinem Nebelgespinst um Sitzmöbel und Teppich.

Plötzlich hartes Kratzen. Polternder Donnerschlag! Barsche Erschütterung! Gundrams Stablampe knallte zu Boden, kollerte davon und verlosch. Finsternis schloss ihre Arme, raubte ungerührt sämtliche Sicht.



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