Eben zog er gewandt seine Jeans über, bemerkte den Blick des Jungen, sah hoch, suchte dessen Augen. Verlegen wandte Erfried das Gesicht weg, tat so, als habe er nur mal kurz hingesehen. Ingomar wusste es anders. "Du brauchst nicht verlegen sein, junger Freund. In deinem Alter habe ich auch andere bewundert, die schon oder fast erwachsen waren. Da ist nichts dabei. Das macht doch jeder. Ich schaue mir auch heute immer noch andere an, wenn sie sich gut machen. Ist doch keine Schande, jemanden ansehnlich finden. Ansehen ist jederzeit erlaubt. Viel mehr darf's aber nicht werden. Du bist alt und klug genug, um zu wissen, dass der Staatsanwalt das nicht gestattet, auch wenn du ein Mädchen wärst. Außerdem, mir wäre was in ungefähr meinem Alter genehmer. Ich weiß noch ganz genau, wie ungeschickt Mädchen von sogar fünfzehn Jahren noch sind. Mir machte es mit denen damals überhaupt keinen Spaß mehr, als ich achtzehn war. Das beste ist, man übt erst mal gründlich mit Gleichaltrigen. Da geht nichts so fürchterlich baden. Das haben alle durchzumachen. Und verrenn' dich jetzt nicht in irgendwas, das so nicht geht! Es tut nur schrecklich weh. Ich weiß es aus eigener Erfahrung."
"Ich wäre gerne, so wie du...", gestand Erfried sehr verlegen, mit hochrotem Kopf und peinlich berührt. Es quälte ihn sogar. - Gründlich durchschaut!
Ingomar lachte. "Keine Sorge! Das kommt noch mit der Zeit. Du hast alles, was dafür nötig ist. Und wenn du dich nicht verlottern lässt, dann sage ich dir womöglich eines Tages dasselbe."
"Es ist so furchtbar lange noch bis dahin. Du bist bald doppelt so alt, wie ich jetzt."
"Ja, ich kenne das auch noch. Es kommt einem so unendlich vor. Sein ganzes Leben, scheint es. Und als Erwachsener hat man da immer leicht reden. Alle guten Ratschläge nützen einem Heranwachsenden gar nichts. Man lebt jetzt und nicht in fünf, acht oder zwölf Jahren. Wer weiß, was bis dahin ist, denkt man. Vielleicht fällt man in eine Erdspalte oder wird überfahren? Dumm ist leider, es ist eben so und nicht anders. Da muss jeder durch. Tröste dich damit ein bisschen, dass es niemandem erspart wird oder erspart wurde."
"Wenn du meinst..."
"Glaub' es mir! Ich bin der letzte, der obergescheit was daherquasselt. Ich kenne das selber noch, kann mich sehr gut daran erinnern. Ich weiß, wovon ich da rede, war doch selber in ganz ähnlicher Lage. Die anderen übrigens auch. Die haben's nur absichtlich vergessen und tun so wie: Aber ICH doch nicht! - Doch, die auch! Alle hatten's durchgemacht, hatten Wünsche, von denen sie jetzt nichts mehr wissen wollen, weil sich das angeblich nicht gehört, schauen selbstgefällig auf andere herunter, die sich ihre Wünsche und Träume nicht wegnehmen ließen. Kümmere dich um solche dummen Zeitgenossen nicht und gehe DEINEN Weg. Und jetzt gehen wir zusammen in die Küche und essen was. Ich habe Hunger. Du auch?"
Erfried nickte, überwältigt von Ingomars Worten, seinem Verständnis und seiner außergewöhnlichen Klugheit. Alle eben noch umtreibende Angst fegte er damit einfach weg. Ein Zauberer - ein hilfreicher, gutwilliger Zauberer! Und dieser Zauberer stand mit offenem Hemd vor ihm, grinste sein jungenhaftes Grinsen. Er sah bewundernswert aus, fand Erfried, versuchte angestrengt den Rat beherzigen: Verrenne dich nicht! Bezweifelte in diesem Augenblick jedoch, ob es gelänge. Wollte er das überhaupt?
Der Junge verscheuchte nagende Fragen wie lästige Fliegen und folgte Ingomar nach, betrat hinter ihm eine Küche von gleichfalls sehr ungewohnter Größe. Offenbar weiteten sämtliche Räume im Haus Perchten derart. Dennoch gemütlicher Platz. Ingomar holte einige Sachen aus dem Kühlschrank, stellte alles auf ausladenden Küchentisch, bereitete Kaffee in einem italienischen Kaffeekocher. Erfried trank noch von der roten Brause und verzehrte mit großem Appetit köstlichen hausgemachten Möhrenkuchen.
Der Kaffeekocher brodelte laut, veranstaltete Getöse, als springe er gleich vom Gasherd. Nachdem Ingomar die Flamme abstellte, kehrte wieder Ruhe ins aufgeregte Blechding zurück. Es zischte nur noch und verstummte schließlich. Daraus verströmender Duft rührte nicht von italienischem oder französischem Kaffee.
Damit machten Erfried und seine Mutter unangenehme Bekanntschaft, anlässlich des Besuches bei einer Nachbarsfamilie im September letzten Jahres.