"Wir haben kein Telefon", meinte Erfried kleinlaut und tief beeindruckt. So was konnten doch nur entsprechend betuchte Leute im Haus haben. Andere mussten zur Telefonzelle gehen oder zur Post.
"Schade! Und in der Nachbarschaft?"
"Ja, schon. Aber die möchte ich nicht belästigen."
"Wie du willst. Hoffentlich macht sich dein Vater dann nicht voller Sorgen überflüssig auf die Socken, um nach dir zu suchen."
"Ich habe nur noch meine Mutter. Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben."
"Hej, Junge, das tut mir wirklich leid für dich", sagte Ingomar und schaute ihn voll an. Aus seiner Stimme klang echtes Mitgefühl. "Das ist keine schöne Sache. Ein Junge braucht auch einen Vater, einen Mann in der Familie."
"Ich hab' noch einen älteren Bruder. Der ist über zehn Jahre älter als ich. Aber der wohnt schon seit einem Jahr nicht mehr richtig bei uns Zuhause, weil er in einer anderen Stadt arbeitet."
"Bist du der jüngste, das letzte Küken aus dem Ei?" Ingomar grinste wieder sein Jungengrinsen.
"Nein, ich habe noch eine jüngere Schwester. Die ist neun."
"Ihr seid drei Geschwister?"
"Vier. Eine ältere Schwester habe ich auch noch. Die muss aber auch auswärts arbeiten und kommt nur wenig Nachhause." Erfried fasste nun doch endlich Vertrauen zu dem seltsamen jüngeren Mann. Dessen Mitgefühl klang echt, und schon das Angebot, er solle Zuhause oder bei Nachbarn anrufen, räumte gewaltige Mengen gehegter Befürchtungen fort.
"Dann hat's deine Mutter auch nicht gerade leicht in ihrem Leben. Hoffentlich macht sie sich jetzt keine irren Gedanken deinetwegen. Aber Mütter kennen ihre Sohnemänner meistens sehr gut. Die weiß bestimmt, dass du schwer auf Draht bist und dich ganz sicher aus der Gefahr verflüchtigt hast. Außerdem bist du dafür nun wirklich alt genug."
"Ich glaub' schon." Wieder fühlte Erfried Stolz über Ingomars anerkennende Einschätzung. Immerhin jemand im fast gleichen Alter seines längst erwachsenen Bruders. Und da will das wirklich was heißen.
"Na, Erfried, dann komm mit mir mit", winkte Ingomar einladend und ging voraus. Erfried folgte.
Dumpf schlug die massige Tür hinter ihm in breiten Rahmen. Nun stand er wieder am Ort seines bislang größten Schreckens. Einsame Kerze blakte auf einem Wandbord, spiegelte Wasserlachen wider, vormals vom klatschenden Regen durch offene Haustür hereingetrieben. Feuchter Geruch stieg vom Linoleumboden, vermischt mit chemisch anmutenden Beimengen. Allein die Bodenfläche des Hauseintritts forderte weitaus mehr Platz, als ihr Wohnzimmer in der Bachgasse. Demnach musste das gesamte Haus der Perchtens reichlich groß sein. Rasch sah Erfried nach Einzelheiten.
Außer wirklich sehr ausladender Garderobe, entsprechend großer Spiegel und dazu passender Schrank, stand nicht viel im Hausflur. Nur noch eine mächtige alte Truhe mit gewölbtem Deckel und zwei etwas verloren wirkende Polsterstühle, nebst kleinem Rundtisch im mittleren Bereich. Hohe und breite Türen führten in andere Räume. Oder zu anderen Durchgängen?
Eine bestimmt zwei Meter breite Treppe reichte an der Stirnseite zum gut und gern vier Meter höher liegenden ersten Stockwerk hinauf. Beinah Wendeltreppe mit knaufig gedrechseltem Geländer, obgleich sie keine ganze Windung beschrieb. Darunter große geschlossene Tür. An beiden Längsseiten gingen jeweils drei vergleichbar große Türen ab, also insgesamt sieben. Davon bekanntlich jene ins weiträumige Wohnzimmer und die daneben sicherlich ins angrenzende Esszimmer. Die Türen lagen nicht in gleichmäßigen Abständen, was auf Räume unterschiedlicher Größe schließen ließ.
Weiß gestrichene Raufasertapeten deckten Wände. Offenbar blieb es hier immer zu dunkel bei geschlossener Haustür. Ein Oberlicht ließ an anderen Tagen wohl etwas Licht herein. Jetzt zuckten Blitze davor herum, brachten keinerlei brauchbare Ausleuchtung. Donner grollte und dröhnte draußen, peitschender Regen und harter Hagel schlug gegen Scheiben. An den weiten Wandflächen hing nur ein einziges machtvolles Bild in sehr dunklem Rahmen.
Ein Gemälde. Vermutlich richtiges Ölgemälde. Es zeigte eine hoheitsvoll schöne Frau in schleierartig wallender Kleidung und mit sehr langem Haar. Erinnerte an vielfach auf alten Bildern gesehene Germania. Beliebte sinnbildliche Darstellung des kaiserlichen Deutschland, schrammte sie gewesener Weise oft gefährlich nah am Kitsch vorbei oder verplumpste gleich im besagten Geschmackspfuhl. Dieses Bild nicht. Vielleicht die Germania in ihrer Freizeit oder im Nachthemd?
Erfried grinste bei diesem Gedanken, unterdrückte aufkommendes Kichern. Wenig höflich, über fremder Leute Wandbehang lachen. Zumal das Bild nicht kitschig oder protzig aussah, nur etwas unüblich. Es passte einfach, musste so sein, wirkte in anderer Ausführung eher albern oder mickrig. Es hing genau über der wuchtigen alten Truhe und machte den Eindruck, die Frau darauf bewache niemals abweichenden Blicks dieselbe. - Sonst nur vollkommen leere Wände. Ungenutzte Flächen. Eigenartig!
Ingomar öffnete die Tür unter der großen Treppe, blickte fragend zurück. "Na, wo bleibst du denn? Wir müssen hier rein, komm."