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Abermal, Kapitel 03, Seite 04

flackert


Anlässlich zufällig kurzen Gesprächs miteinander bewies sie nonchalant, auch Erwachsenen bräche kein Zacken aus der Krone, sind sie gegenüber Kindern ausgesucht höflich, sehen in ihnen nicht nur dummes Ding auf zwei Beinen. Und dabei schon recht betagt, diese Frau Gräfin, mit sicherlich anderen Neigungen, damals elfjährigen Jungen nach Namen und Befinden fragen. Sie grüßte ihn späterhin auf der Straße namentlich sogar zuerst, schweifte er in Gedanken offensichtlich gerade mal wieder ganz woanders herum. Das ist wahre Noblesse!

Aber Vergleichbares kannte er auch von Zuhause. Seine Mutter besuchte einst die höhere Töchterschule. Für Töchter mittlerer Großbauern aus der Weichselniederung selbstverständlich. Sein Vater besaß ähnliche Bildung. Mittlere Reife. Vormals Verwalter kleineren masurischen Guts und ehrenamtlicher Bürgermeister dortiger Landgemeinde. Gutes Hochdeutsch und gewisser Benimm mussten sein.

Vom Krieg gezwungen verließen die Eltern ihre Geburtsheimat, vergaßen sie aber nie. Immerhin verlebten sie dort ihre Kindheit und Jugend, heirateten, ihre ersten beiden von vier Kindern kamen zur Welt. Doch die Ostfront rückte drohend näher. Auf Drängen des Ehemanns ging die junge Mutter frühzeitig auf den Treck nach Westen. Ältestes Kind noch keine eineinhalb Jahre und das zweite erst kürzlich geboren. Sie galten daher nicht als vertrieben im gesetzlichen Sinne. Später in aller Eile von der Wehrmacht evakuierten widerfuhr Grauenvolles.

Auch dem Jungen schallte im Ohr: "Ja, die aus dem Osten, die kriegen doch alles!"

Hartnäckig kreiste dümmliche Mär, alle angemeldeten Lastenausgleiche umfassten doppelte bis dreifache Fläche vormaliger deutscher Ostgebiete. Dummes Zeug! Amtliche Kleinkrämerei verhinderte es, klärte quälend, wessen Anspruch berechtigt. Nur Vertriebene erhielten Lastenausgleichszahlungen, mussten penibel Liegenschaften oder Sachwerte nachweisen. Was Papa Staat danach rausrückte, fiel geizig aus.

Ähnlich bei seinem Vater, der noch in letzten Kriegstagen 1945 einen Lungenschuss an der Westfront abbekam. Fortan schwerbeschädigt und arbeitsunfähig. Knickrig bemessene Versehrtenversorgung sicherte kaum leidlich würdiges Auskommen. Schon gar nicht mit vier Kindern später. Vaterlands Dank! Für alle gab es höchstens mal zwei Tafeln Schokolade im Monat. Mehr nicht. Schokolade kostete damals zuviel. Sein Vater starb vor zwei Jahren an späten Folgen seiner Verwundung. Daran anschließende Hinterbliebenenversorgung reichte nunmehr erst recht hinten und vorne nicht. Mutter ging zwar zusätzlich Putzen, wie vergangene Jahre schon, doch das brachte nur geringe Entlohnung, reichte knapp.

Alle vier Kinder besuchten keine weiterführenden Schulen, trotz guter Schulleistungen. Magerer Familienhaushalt gab es nicht her. Tägliche Fahrt ins Gymnasium der Kreisstadt und benötigte Lernmittel konnten daraus nicht bestritten werden. Und zur öffentlichen Fürsorge gehen...? Unvorstellbar! - Dumm? Mag ja sein. Verdammter Stolz dritter Tochter von Großbauern mit Ahnenbeweis bis ins fünfzehnte Jahrhundert stand dagegen. Ihre genossene Bildung nützte wenig. Ursprünglich nicht dafür gedacht, befähigte sie zu keinem irgendwie gearteten bürgerlichen Beruf.

Seit Kriegsende zur Putzfrau verdammt, mitsamt Kenntnissen in Altgriechisch, Latein, Englisch, Französisch und umfänglichem Allgemeinwissen. Noch bis weit in die Sechzigerjahre nur im Ausnahmefall amtlich oder anderweitig gestützt, gab es in den Fünfzigern für sie keine Fortbildung. Erst recht nicht bei ihrem Alter. Über Mitte dreißig. Und dann auch noch als Hausfrau, obendrein vier Kinder und der Haushalt. Bestenfalls aus eigener Tasche bezahlt. Ohne eigene Arbeitslosenversicherung, kein Fördergeld vom Arbeitsamt.

Woher nehmen, wenn es hinten und vorne mit Geld und Zeit nicht reicht? Von der standesbewussten Gutssippe, zum Teil auf dem großen Treck umgekommen, als Soldaten vom Krieg gefressen? - Wenig bemittelt lebten sie in den Fünfzigern über ganz Restdeutschland verstreut. Einige fassten mit der Zeit wieder hinlänglich Tritt, ob ihrer guten Bildung, wurden aber fortschreitend besserer 'Situierung' immer zurückhaltender. Bucklige Verwandtschaft!

Nach Aussagen der Mutter, nahm deren Familie versteckt naserümpfend seinen Vater hin, weil er durchaus standesgemäßen Beruf ausübte. Dummerweise entstammte er nicht alter deutscher Sippe Ost- und Westpreußens, des Baltikums oder Pommerns, seit über vier bis fast sieben Jahrhunderten dort heimisch. Aber bei dritter Tochter einer Großbauern- oder Gutsfamilie wollte man offenbar nicht übertrieben pingelig sein. Immerhin leidlich annehmbar und gut evangelisch unter die Haube gekommen. Römisch katholisch - Kathole! Papist! - hätte er nicht sein dürfen. Da wäre der Ofen ganz schnell aus gewesen.

Von Vaterseite lebte niemand mehr, außer einer sterbenskranken Tante. Alle tot! Rachsüchtig ermordet von zuvor in ehemaligen deutschen Gebieten nie ansässigen Polen oder den Russen. Oder von letzteren verschleppt. Vermisst in Sibirien, verschollen in der Tundrahölle, weilten sie kaum noch unter Lebenden.

Ganze Volksstämme und sieben Jahrhunderte ausgelöscht. Millionen entwurzelt und heimatlos. Selten besaßen sie viel mehr als am Leib getragen. Der einzelne Mensch fragte da nicht mehr nach Schuld oder Schicksal, nach befremdlichem Gott oder Sühne, beweinte nur unerträglichen Schmerz. - So ändern sich die Zeiten!



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