An der vierten Tür blieb ich stehen. Mein altes Klassenzimmer. - Hier hatte ich gelitten und gedarbt, gelacht und Unfug getrieben, mir so manche Schelle eingefangen und zuletzt sogar Siege über misslaunige Lehrer davongetragen. Zwar auch hier ganz andere Sitzordnung, alle Pulte standen in Gruppen einander zugekehrt, aber sonst erkannte ich vieles wieder. Unter den Fenstern dieselben alten Heizkörper. Neuerer Herkunft schien die große Tafel, sah aber nicht viel anders aus. Nur eines bewies gewandelte Zustände: Sehr schlampig ausgewischte Tafel! Früher undenkbar. Da haben es jetzige Schüler offenbar besser als damals unsereiner.
Plötzlich verdunkelte der Raum. Eine Wolke vor der Sonne? Sofort herrschte ganz andere Stimmung. Jetzt erinnerte alles an verregnete Vormittagsstunden, während derer unsere Köpfe rauchten, feuchte Luft innen herrschte. Damals obendrein vermischt mit Kunststoffdunst aus Bodenbelag und Heizkörperlackierung, was ohnehin üblen Mief verstärkte, weil alle Fenster geschlossen. Auch die Tafelkreide roch eigentümlich. Es kam mir sogar so vor, als wehe von irgendwo Tabaksqualm. Unser Klassenlehrer qualmte während des Unterrichts, öffnete höchstens mal das Fenster nahe des Pultes. Ob heutige Lehrer auch hier rauchen? - Unwahrscheinlich! Aber woher kam dann dieser Zigarettengeruch? Sollte er noch aus jenen alten Zeiten stammen?
Ich sann nicht weiter nach, stand im Türrahmen und ließ meinen Blick schweifen, schaute auf jene Stelle, wo einst mein Platz gewesen sein muss. Dort lauerte nichts mehr, außer abgenutztem Linoleum. Das Zeug dünstete immer noch genauso widerlich aus wie damals. Rührte wohl von verwendeten Putz- und Pflegemitteln.
Und genau dieser Geruch ließ einstmals hier wesende Geräusche in mir klingen. Geräusche, von prallvoller Jungenklasse nun mal unweigerlich lautstark erzeugt. Auch Gesichter erschienen mir deutlich vor innerem Auge. Wieder erkannte ich damalige Klassenkameraden, wie sie hin und her rannten. Einige balgten und prügelten sich auch. Andere schrieben eilig noch etwas in Hefte, tauschten neueste Billigschmöker oder rissen Zoten. Viele quatschten einfach nur miteinander, lachten über das eine oder andere. Und alles inmitten gehabten Höllenlärms.
Plötzlich alle wieder da, jung wie damals und teilweise noch lange nicht ausgewachsen. Etliche hingegen, schossen in die Höhe, legten in späteren Lebensjahren nicht oder nicht mehr viel zu. Sie turnten herum, als seien sie gerade aus geschwundener Vergangenheit aufgetaucht. Zwischenräumen der Zeit entkommen, trieben flitzende Lümmel Schabernack mit dem Zeitfluss. So lebendig tobten deren Gestalten, dass mir schwerfiel, unweigerlich frühen Tod einiger zur Kenntnis zu nehmen.
Mehr als ein Vierteljahrhundert, dreißig Jahre, sind verdammt lange Zeit. Wie viele von den Bengeln erwischte es schon? Wer verunglückte mit dem Auto oder sonst wie? Wen riss welche Krankheit vorzeitig aus mehr oder weniger günstigem Wirken? Wer mochte noch Junggeselle sein? Wer geschieden, mit wie viel Kindern? Und wer wohnte überhaupt noch hier am Ort? - Was wurde aus ihnen, bei welchem Schicksal?
Trotzdem ich die damalige Zeit nicht verkläre, mir über ihre oft genug niederschmetternde Unzulänglichkeit bewusst bin, weiß ich, es muss auch eine gute Zeit gewesen sein. Schließlich gab sie den Grund dafür her, das zu werden, was ich jetzt bin. Und wir nahmen uns eben jene gern vorenthaltenen Freiheiten, schlugen über Stränge, wo es nur ging. Keine Unschuldslämmer, hatten wir es zum Teil faustdick hinter den Ohren.
Ich vermied und vermeide dies dumme Geschwätz über 'die Jugend von heute'. Wir waren keinen Deut besser! Uns fehlte eine oder andere Möglichkeit, welche erst durch technische oder gesellschaftliche Neuerungen in den Alltag trat. Aber sonst? - Dieselben widerlichen und wiederum liebenswerten Ungeheuer, wie jetzige Halbwüchsige. Wie zu allen Zeiten! Warum sollte ich Nachwachsenden hohlen Unsinn um die Ohren hauen, über welchen ich mich mitsamt meinen Altersgenossen damals schon unsäglich ärgerte? Weil ich älter bin und jene Halbwüchsigen meine Kinder sein könnten? - Dummes Zeug!
Da stand ich, Toben und Lärmen im inneren Ohr, sah meinen alten Klassenraum so wie damals, dessen strenge Anordnung der Tische in zwei Reihen. An jedem Tisch blickten zwei Schulkameraden an Rücken und Köpfen davor sitzender vorbei, teils auch schon darüber hinweg, stets nach vorn zur Tafel und zum Lehrerpult.
Hier hatte das wahre Ungeheuer sein grässliches Drachenlager aufgeschlagen, verfolgte mit rot glühenden Augen jede Bewegung der Schüler, damit sie bei Klassenarbeiten nicht schummelten oder anderen Unfug trieben. Dabei galt es schon als Unfug, nicht aufmerksam genug am speienden Rachen der Bestie hängen, jedes noch so unwichtige Wörtchen aufsaugen. Grausame Strafen folgten! Und sie konnten wirklich sehr grausam sein.
Nahm jener niederträchtige Drachen erst einmal einen aufs Korn, gab es kein Entrinnen. Das bedauernswerte Opfer wurde zur beständigen Zielscheibe seiner Quälereien, Gewalttaten und Bosheiten. Meist wussten die Ärmsten keine Hilfe, weil deren blöde Eltern es durchaus in Ordnung fanden.
"Wo man hobelt, fallen Späne! Biegen oder Brechen!" blökten ihrer Alten dumme Sprüche. Deren laue Rechtfertigung mag in eigenen erlittenen Qualen liegen. Doch das ist keine Entschuldigung für dreiste Dummheit, schon gar keine, für mangelndes Mitleid.