Er kannte Runen nicht so genau, lediglich aus dem Geschichtsunterricht einige Male erinnerlich. Demnach altgermanische Schriftzeichen, gleich heute verwendeten Buchstaben. Warum und wozu sie jedoch hier angebracht, blieb rätselhaft. Schwach entsann er, sie dienten auch Zauberzwecken. Doch darüber wusste er näher erst recht nichts. Klar nur: Dies sind Runen! Ausgesprochen kunstvoll ausgeführt, ähnelten sie entfernt Frakturschrift. Eine kannte er: Die Rune 'Odal', Lautwert 'O'! Sie soll zugleich 'Erbe' bedeuten oder so ähnlich.
Bestimmt keine Worte im Boden! Diese Kreisanordnung diente anderen Zwecken, wirkte unheimlich und ängstigend, bedrohlich und düster. Und was von seinem Standort im dunklen Wandteppich ablesbar, erschien genauso beklemmend, krallte kalthändig nach ihm. Jetzt erkannte er auch den atemraubend süßlichen Geruch: Räucherwerk! In alles eingedrungen, selbst in Stein...
Mitten in einer Hexenkirche!
Angst trieb hoch, bisher mühsam im Zaum gehalten. Jetzt wollte sie wüst schreiend Bahn brechen. Der Junge zitterte am ganzen Leib, eisiger Schweiß trieb aus Poren. Du musst den Ausgang finden, den Geheimgang in die Wälle! versuchte er Ordnungsruf, schaffte es aber nicht ganz. Fressende Furcht blieb. Doch immerhin trat sie langsam zurück, tobte nicht mehr dermaßen wild. Auch sein Herzschlag ging auf erträgliches Maß zurück.
Was jetzt? - Wieder ruhiger, nahm er den Rundraum näher in Augenschein.
Unverkennbar Weihegewölbe, Hexenkirche. Schon unheimlich lagernde Stimmung und erlebte Auswirkung sprach dafür. Wilde Bestien, die ansprangen, festbissen und knurrten. Aber auch hier entdeckte er kein Anzeichen anderen Ausgangs. Nur der Durchlass im falschen Schrank gähnte wenig heller, schimmerte fade. Ohnehin düster im geringen Licht ausschließlich einer Flamme.
Ob ich daran die Petroleumlaterne anzünden kann? - Zumindest versuchen! beschloss er, machte kehrt und holte scharf nach Steinöl riechendes Blechding. Vorsichtig rundbauchiges Schutzglas mit dem dafür vorgesehenen seitlichen Bügel gehoben. Hässlich quietschten Scharniere. Beide Arme hochgestreckt, stand er auf Zehenspitzen, wollte den Docht an einsame Ampelflamme halten. Aussichtslos. Solange er nichts genau sah und unsicher stand, glückte es kaum. Womöglich verlosch bei seinen ungeschickten Versuchen die einzig verfügbare Zündquelle. Das fehlte gerade noch!
Rasch rückte Erfried einen der übergroßen schweren Stühle herüber, stieg auf dessen Sitzfläche. Einige knapp fehlgegangene Versuche, dann endlich flackerte der Laternendocht rußend aber hell. Schnell ließ er das Schutzglas wieder herab, regelte bessere Brandhöhe ein und stieg vom Stuhl.
Aus anerzogenem Ordnungssinn schob er gewichtiges Sitzmöbel wieder zum ursprünglichen Platz am Wandteppich. Außerdem wollte er keine offensichtlichen Hinweise hinterlassen, welche jedem sofort ins Auge stachen. Wesentlich hellere Runde offenbarte eingewobene Zeichen des Behangs. Deren Kreisanordnung sprang ängstigend, fast kreischend ins Auge. Bloß nicht näher! Mit dem Fuß stieß er den Stuhl weiter. Rückenlehne kippte gegen Stoff und Wand dahinter.
Unerwartetes Geräusch! Dumpf, trocken, merkwürdig volltönend. Aber keineswegs hohl. Aufzuckender Gedanke: Wandbehänge verbergen oft genug heimliche Türen! Jedenfalls reihenweise in Sigurdschmökern. Und dies kam letztlich nicht von Ungefähr. Ob da vielleicht...? Aufgeregt rückte er den Stuhl wieder ab, nebenstehende gleichfalls genügendes Stück, schlüpfte samt hell brennender Petroleumlampe mutig hinter drohend wallenden Vorhang. Zuerst entdeckte er nichts...
Doch! Schmale und niedrige Aussparung. Eiserne Beschläge. Kleine alte Tür aus dicken Bohlen, wahrscheinlich Eiche. Er klopfte dagegen. Völlig anderer Ton. Vorhin sicher nicht zufällig das Holz getroffen. Diese Wand erzeugte allgemein volleren Klang. Prüfend griff er zur Klinke. Leichtgängig gab sie nach... Selbstverständlich abgeschlossen, widerstand die Tür höhnisch allen Versuchen, lachte ihn mit großem Schlüsselloch aus. Enttäuscht starrte Erfried auf hölzerne Sperre.
Was erwartest du denn, du Dussel? So eine Tür schließt doch jeder ab. - Der Schlüssel auf dem Tisch im Vorraum! Wenn ich Glück habe, dann passt er hier!
Eilig holte er das alte Schmiedestück. In seiner Aufregung bekam er es nicht ins Schlüsselloch. - Passte doch nicht? - Noch ein Versuch, nachdem er tief durchatmete. Schließbart glitt rein. Falls tatsächlich der richtige, dann... Er wagte es erst nicht. Und als er den Schlüssel endlich doch herumdrehte, stemmte harter Widerstand dagegen. Auch mehrmalige Anstrengung brachte kein Ergebnis.
Das Scheißding passt nicht! Trockenes Schluchzen schüttelte. Am liebsten wollte er hemmungslos heulen und schreien. Wiederholte Drehung, diesmal entgegengesetzt. "Ratsch! Klack!" Das Schloss schien entriegelt. Er drückte die Klinke nieder und zog... erfolglos. Fehlschlag! Bombenfest verharrte die Tür im Rahmen.
Geht sie in andere Richtung auf? Hier innen sind keine Scharniere. - Der Junge stemmte vergeblich dagegen. Erneut, wild klopfenden Herzens und wesentlich kräftiger... Kratzend ruckte hölzerne Feindin. Erst nur ein bisschen, stoppte dann an irgendeinem Widerstand. Erfried keuchte vor Anstrengung. Kurzer Quietschlaut - und das Türblatt schwang widerstrebend zurück.