"Ist das nicht so?"
"Leider oder glücklicherweise ganz und gar nicht! Wenn Freiheit an anderer endet, dann ist sie eingeschränkt. Und Einschränkung, sei sie auch noch so gering, ist keine Freiheit mehr. Eingeschränkte Freiheit trägt nur noch die Bezeichnung 'Freiheit'. Aber sie ist es nicht, weil Freiheit keine Schranke duldet, widrigenfalls sie nicht besteht."
"Mir scheint das wie ein Wortspiel." Erfried verstand nicht, was der ältere Herr sagen wollte.
"Entschuldige bitte, wenn ich mich nicht ganz verständlich gemacht habe. Sicher, junger Freund, mit Worten lässt sich trefflich herumspielen und auch herumprunken. Aber hier geht es um eine Sichtweise. Wenn ich Freiheit als einschränkbar oder eingeschränkt ansehe, dann gestehe ich grundlegend zu, dass sie in irgendeiner Weise beschnitten werden kann und darf. Von wem auch immer oder in welchem Maß. Versteht man Freiheit grundsätzlich als die Freiheit anderer, weil man selbst nicht frei sein kann, wenn andere nicht auch frei sein dürfen, dann läuft man ständig Gefahr, seine eigene Freiheit zu verlieren. Will sagen: Meine Freiheit ist immer die Freiheit anderer!"
"Aber ohne Schranken geht es doch nicht. Ich kann doch nicht einfach andere überfallen oder berauben und so was alles. Und selber brauch' ich mir das doch auch nicht gefallen lassen. Man kann doch nicht einfach machen, was man will."
"Siehst du, lieber junger Freund, das ist der aus dieser Sicht mit der endenden Freiheit folgende Trugschluss! Überfällst oder beraubst du andere, dann schränkst du anderer Leute Freiheit ein, musst dir gefallen lassen, wenn man sie auch dir einschränkt, weil du Freiheit als einschränkbar verstehst. Umgekehrt ist es genauso. Man braucht nicht dulden, dass einem andere die Freiheit nehmen. Freiheit heißt ja nicht Zügellosigkeit, einfach machen, was einem gerade in den Sinn kommt, sondern Verantwortung. Verantwortung für andere und damit auch für sich selbst."
"Und was ist bei einer Naturkatastrophe oder wenn ein Krieg ausbricht?"
"Nun, ich sagte schon: Verantwortung für andere und damit für sich selber! Wenn ein Krieg ausbricht, dann ist das ja ähnlich einem Überfall von Räubern. Du musst die Freiheit der anderen verteidigen, damit sie in der Lage sind, auch deine Freiheit zu verteidigen. Und in einer Naturkatastrophe besteht unbedingte Notwendigkeit zur gegenseitigen Hilfe, weil man allein meist sehr schnell untergeht. Notlagen, verursacht durch naturgesetzliche Abfolgen, sind keine Freiheitsberaubung. Freiheitsberaubung findet nur durch andere Menschen statt. Krieg ist aber kein Naturgesetz, sondern eindeutig Freiheitsberaubung!"
"Was Freiheitsberaubung bedeutet, wissen wir doch allesamt aus vielen Leben, nicht wahr?" Herr Perchten, Herwig Perchten, trat irgendwann unbemerkt zu ihnen und sah jetzt jeden in der Runde bedeutungsvoll an. Wissend und seltsam ernst lächelten alle, nickten bedächtig.
Erfried konnte nicht mehr fragen, was der Herr des Hauses mit seiner eigenartigen Bemerkung meinte. Just ließ jemand eine feierliche Melodie in Klaviertasten fließen. Jede Unterhaltung erstarb gezwungenermaßen. Sämtliche Anwesenden widmeten ihre Aufmerksamkeit dem alles übertönenden Möbel und auch aus dem Speisezimmer kamen jetzt Leute herein, blieben erwartungsvoll lauschend stehen. So überraschend wie das Klavierspiel begann, so endete es auch in einer Art Tusch.
Der Hausherr hob beide Hände und verkündete: "Liebe Anwesende! Unsere allseits geliebte und verehrte Freundin Nolwenn aus der Bretagne feiert heute ihren Ehrentag. Wir wollen auf sie unser Glas erheben und ihr alles erdenklich Gute wünschen. Sie lebe hoch!"
"Hoch soll sie leben! Hoch soll sie leben! Dreimal hoch!" sangen alle, begleitet von ausgelassenem Klavierklimpern. Dann beglückwünschte man genannte Nolwenn. Erfried entdeckte sie nur ganz kurz. Von so vielen Leuten umringt, verschwand sie vollständig im Kokon aus Leibern, Lachen und Stimmengewirr, klingenden Gläsern und Händeklatschen. Munteres Durcheinander herrschte und jemand spielte erneut Klavier.
Diesmal allerdings verhalten. Fremdartig und etwas traurig klang die Tonfolge, schwebte bestimmend im Raum, füllte jeden Winkel. Wunderschön! Erfried überkam Traumgefühl, welches nicht allein von getragener Melodie herrühren konnte. Heimliche Veränderung! - Oder immer schon so gewesen, unbemerkt?
Mich beobachtet wer! - Bei den Sesseln stand er, wo zuvor ihre Gesprächsrunde stattfand. Unsicher geworden, schaute er verstohlen nach allen Seiten. - Da! - Sein Gefühl trog nicht. Scharf und unausgesetzt sah Gundram herüber, abgewandt vom Rand des Auflaufs um das Geburtstagskind. Geburtstag? Herwig Perchten sprach von Ehrentag. Aber das ist doch meist dasselbe. Oder nicht?
Unablässig blieben Gundrams Augen starr auf ihn gerichtet. Blaue Fünkchen und schwach leuchtende Strahlen glimmten heraus, drangen auf Erfried ein, bildeten dunstige Hülle aus schimmerndem Licht, kaum sichtbar. Vom Zigaretten- und Zigarrenrauch rührte es nicht. Erfried fror, trotz Wärme im Raum. Diese Augen brannten eigenartig... Flammenloses Brennen! Fast wie beim Dieb des Glanzes! - Nur fast oder ganz ähnlich? Womöglich genauso, nur in anderer Weise?