Allerdings gebe ich zu, jemandem sehr handfest Grenzen weisen, kann durchaus angebracht oder notwendig sein. Wem nicht deutlich aufgezeigt wird, wo die Fahnenstange endet, glaubt hernach, es gäbe kein Ende und schurigelt seine Mitmenschen, wie es ihm oder ihr passt. Niemand hat das Recht, anderen Gewalt anzutun oder das Leben zur Hölle machen und dann womöglich sogar mit ach so schrecklicher Kindheit ankommen: "Ich bin missbraucht worden!"
Nasowas! Und wer missbraucht unsereins? Die Fürsorge?
Zumeist ohnehin nur frech faule Ausrede. Oft genug sind sie auch einfach zu dumm und begreifen gar nichts anderes. Mit vielbesagt 'feiner englischer Art' oder irgendwelchem Psychologiekrempel kommt man da nicht weiter. Es ermuntert sie bloß, tut ja nicht weh. Manchen muss man einfach mal eine tüchtige Tracht Prügel verabreichen. Dann verstehen sie, trotz ihrer anmaßenden Doofheit. Aber das gilt bei mir eben auch für damalige Zustände, für ungezügelt prügelnde Lehrer und Eltern, verbunden in stumpfsinniger Kumpanei.
All diese widersetzlichen Gedanken sprangen mir im Kopf herum. Widersetzlich deshalb, weil zugleich Wehmut aufkam.
Mein Blick ruhte seit geraumer Weile auf jener Stelle, wo damals ein Schulfreund saß. - An einem Tisch durften wir nicht sitzen. Unser Klassenlehrer befürchtete heimlichen Austausch bei Prüfungen. Da hatte er gar nicht mal so Unrecht. - Was mag aus diesem Schulfreund geworden sein? Bis heute kann ich nicht erklären, was damals tatsächlich ablief. Immer wieder fiel mir dieser Schulkamerad in allen folgenden Jahren ein. Nie vergaß ich ihn wirklich. Lediglich Erinnerung an ihn verblasste mit fortschreitender Zeit. Man lebt ja schließlich nicht im Gestern. Auch ihm hätte bloßer Volksschulabschluss und nachfolgende Lehre nicht ausgereicht. Er war viel zu begabt und viel zu nachdenklich, bis hin zur Grübelei.
Selbst lernte ich nacheinander zwei Berufe. Zuerst Maschinenschlosser und nach einem Jahr Gesellenzeit, Technischer Zeichner. Als Maschinenschlosser sowieso Kenntnisse in dieser Hinsicht, genügten zwei Lehrjahre. Weiteres Jahr später entschied ich mich für Reifeprüfung, ging also noch einmal zur Schule, diesmal eben zur Oberschule. Anschließend reizte Studium der Ingenieurswissenschaften. Sofort nach dem Hochschulabschluss folgte erste Anstellung. Meine beruflichen Vorkenntnisse und Zeugnisse kamen bei Arbeitgebern sehr gut an. Man schätzte Wirklichkeitsnähe. Aber ich wollte mir selbst mehr beweisen und erwarb vor sechs Jahren sogar den Doktor in meinem Fach. Zuvor lediglich drängend vermutet, stand danach sicher fest, wie viel Hohlheit und kindische Großtuerei an akademischen Titeln haftet. Erschien mir nur noch lächerlich.
Leider begleitete jener Schulfreund mich dabei nicht. Nicht mehr da, verschollen im Nebel der Zeit! Aber ich bin mir sicher, er hätte ähnlichen Weg genommen. Kluger Bursche, wenn auch etwas eigenbrötlerisch und sehr anders als sonstige Schulkameraden. Wahrscheinlich mochte ich ihn deshalb sehr. Seit Kindesbeinen kannten wir uns, erlebten unseren Stimmbruch, trieben miteinander, was Jungen eben so treiben, werden sie unverkennbar Männer. Lange Zeit zum vollen Mann. Eigentlich schwärmte ich damals für ihn, wollte mit ihm sogar einmal richtig schlafen.
Bei dieser Erinnerung grinste ich unwillkürlich. Unbedarft spähendes Auge hielte mich jetzt sicher für überspannt oder daneben. Aber es war eben so. Dieser Junge blieb das einzige männliche Wesen in meinem Leben, für welches ich so viel empfand. Heute bin ich längst verheiratet, liebe meine Frau ulkiger Weise noch immer, habe drei Kinder. Zwei Töchter und einen Sohn. Alle drei mittlerweile über unser damaliges Alter längst hinaus, eigentlich bereits erwachsen. - Von diesen kennzeichnend schwulen Leuten, zumal aus entsprechender Szene, halte ich nicht viel. Während Studentenzeiten verlockte ein Kommilitone in solche Kreise.
Reichlich gerafftes Gastspiel. Ich fand sie fast ausnahmslos nur doof und lächerlich aufgedreht. Deren häufig überziertes und aufgeplustertes Gehabe stünde auch Frauen nicht an. Nach meinem Empfinden, sogar von weiblicher Seite nicht hinnehmbar. Zuvor dachte ich stets, solche Leute mögen das Männliche an sich selbst und anderen. Allein deren Musikgeschmack... einfach furchtbar! Meist einseitiges pendeln zwischen Entsetzen verursachender Klassik und seichtestem Schlager und Pop. Anderes, gar heiße Rockmusik, schien diesen dürren Geistern immer fremd geblieben. Sie schwelgten plüschig in 'Kunschd' und 'Kuldur', latschten in die Oper - grusel! - oder ergötzten sich bestenfalls noch an sogenannten 'Damenimitatoren', deren Langeweile in Marilyn Monroe, Zarah Leander, Marlene Dietrich oder andere entsetzliche weibliche Stars gipfelte.
Grauenvoll! Ein einziges Graus, dieses Szenengetue! Nichtssagendes Gewäsch machte bedauerliche Runden: "Ich bin Ästhet!" - Na und? Was heißt das denn schon? Jeder Hohlkopf wird es behaupten, entsprechend sattsam bekannten Allgemeinplätzen, wie: Ich liebe die Natur! Sagen schrumpfige Schrebergärtner gern, spritzen fleißig Gift in die Landschaft und stellen Gartenzwerge auf beleidigten Rasen. Oder: Ich habe Humor! Faden Faschingswitz gemeint, weswegen überlastete Bartwickelmaschinen im Keller ächzen
Mir stieß es übel auf. Den Kommilitonen fertigte ich ausgesprochen barsch ab. Etwa nur aus einer Freundschaft entstanden, ohne dies bescheuerte Drum und Dran, wäre es vielleicht anders verlaufen. Aber grundlegend anders? Womöglich nicht so abgeneigt von meiner Seite.