Offenbar fand zuvor lockeres Gelage statt. Auf der Tafel standen unabgeräumte Überbleibsel des Festmahls. Wüste Unordnung aus hölzernen und metallenen Tellern und Schalen, unberührte oder angenagte Reste darin. Daneben leere oder halb ausgetrunkene Pokale und Humpen. Einige umgestoßen. Inhalte über ehemals weißes Tafeltuch verlaufen, weichten herumliegende Essensreste. Unerfreulicher Anblick, überragt von geschmiedeten Kerzenhaltern mit schier armdicken Bienenwachskerzen. Deren fast faserig abgetropftes Wachs bildete häufelnde und umgekehrte Verläufe auf Flächen darunter. Tropfsteine sahen auch so aus, wuchsen von oben und unten, bis sie aufeinander trafen und verschmolzen. Hier, in kleinem Ausmaß und weichem Wachs.
Einen vergessenen, kostbar geschmiedeten Dolch steckte er ein, betrat finsteren Geheimgang. Rußig blakende Fackel.
Schweres Gewölbe im schmalen Fortlauf, gegensätzlich zu erstem Eindruck. Nach etwa zwanzig Schritten, Kehre nach rechts. Der hellere Eintritt zum Rittersaal verschwand aus dem Blickfeld. Jetzt stieg der Geheimgang etwas an, wurde leicht niedriger, fiel ziemlich schräg wieder ab, führte in unbekannte Tiefen.
Roher Fels folgte. Hin und wieder seitlich eingehauene Aussparungen, wahrscheinlich für Kerzen oder Öllampen. Geschmiedete Fackelhalter in weiten Abständen eingefügt. Fackeln oder Fackelreste staken nicht darin. Erwartungsvoll hofften dicke Eisenringe auf Gebrauch. Keine Abzweigung, Tür oder kleine Halle unterbrach den dunklen Geheimgang. - Wo mochte er hinführen?
Dumpf hallten Schritte vom Fels wider. Alle Trittklänge verschwanden flugs in langgestreckter Dunkelheit vorn und hinten, als flüchteten sie sofort diesen Ort. Eigentlich kein echter Ort. Gänge sind nicht zum Verweilen gedacht, sondern als Wegstrecke, welche bewältigt sein will, um einen Ort zu erreichen. Erst recht Geheimgänge.
Unendlich lange unterwegs. - Wie weit mochte dieser Gang führen?
Ihm kam es vor, als habe er schon hunderte, aberhunderte Schritte getan. Verwirrung stieg, weil der Gang bereits viele Male nach links und rechts wand. Teilweise steil aufwärts, meist aber abwärts. Er konnte nicht mehr einschätzen, wie tief er bereits abstieg. Vielleicht gar nicht wirklich tiefer gelangt? Ob sein Ausgangsort tatsächlich weit hinter ihm lag? In Schritten sicher. Aber in echtem Abstand? Womöglich führt alles im Kreis herum und wieder zurück? - Nein! Ganz entschieden, nein! Solche Geheimgänge führen mindestens an die eine oder andere gesonderte Stelle, wenn auch häufig gleichzeitig wiederum zurück.
Und was suche ich hier eigentlich? - Das Geheimnis natürlich! Was denn sonst? Geheimgänge führen in geheime Hallen, in geheime Gewölbe, wo Geheimnisse verwahrt werden. Sonst wären sie ja nicht geheim. Leuchtet doch ein, oder?
Schließlich mündete der Gang an ungemein steil abwärts führende Treppe. Bröckelig und ausgetreten führten Stufen in unauslotbare Tiefe. Unbeirrt stieg er aus dem Felsen geschlagene Absätze mühsam hinunter.
Nicht daneben treten!
Wenn er diese Steile hinunterfiele, nähme das echt böses Ende. Hals brechen, mindestens aber schwerste Prellungen erleiden, schmerzhaft den Kopf anschlagen, ohnmächtig werden und anschließend hilflos liegen bleiben. Niemand hörte hier Hilferufe und irgendwann brannte auch die Fackel ab. Verschlossene Dunkelheit! Leichtes Spiel für Ratten. Gefundenes Fressen.
Ende langer Steintreppe schien erreicht. Etwas sauste an seinen Beinen vorbei und verschwand treppauf. Er erschrak gewaltig, wirbelte herum.
Vom Fackellicht knapp noch erfasst saß weit oben der Marder am Rand einer Stufe. Scharf blinkten spitze Zähne aus kleinem Räubermaul. Das Pelztier sah ihn an, hockte hin und schaute auffordernd. Vor wabernd grauem Hintergrund entstanden Gedankenbilder aus Worten: "Geh nicht weiter! Komm wieder zurück!"
Aber er wollte nicht zurückgehen. Nicht jetzt, wo er dem Geheimnis bereits so nah. Alle Anstrengung umsonst! Wut auf den Marder brach heraus, der einfach seine Sachen kaputtmachte. Ohne jede Rücksicht. "Wenn ich dich erwische, kannst du was erleben!"
Der Marder flitzte aufwärts davon. Ärgerlich wollte Erfried weiter. - Tür im Dunkel! Im Fackelschein tanzten deren Umrisse. Die Tür zum Dachboden. Gut, dass ich noch den Schlüssel habe! erinnerte er befriedigt, steckte klimpernden Entriegler ins Loch und drehte ihn herum.
Zuerst leistete das Türschloss Widerstand, gab dann aber nach. Dumpfes Klacken. Erfried drückte die quietschende Klinke nieder und stemmte seine Schulter gegen das Türblatt, gewohnt hartnäckig im verzogenen Rahmen. Aber dann schaffte er es, nachdem er alle Kräfte aufbot. Die Tür schwang auf. Licht drang in finsteren Geheimgang. Ganz sicher kein Licht aus dem Dachboden oder sonst einem Ort, in oder bei Ritterburgen zu erwarten.