"Das wollte ich damit doch auch nicht sagen! Das wäre ja wirklich dumm und bösartig. Meine Mutter hat mir beigebracht, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt, zwischen dieser Romkirche als solche und den Menschen. Und wäre der hiesige katholische Pfarrer nicht so ein Ekelpaket, dann fände sie selbst den noch ganz leidlich. Mit der römischen Kirche will sie aber überhaupt nichts zu tun haben. - Nein, es geht darum, dass Ingomar mir sagte, der Brückendiener müsse jemand ganz und gar unauffälliges sein, an den man überhaupt gar nicht denkt. Und wer wäre unauffälliger, als ein angesehener und alteingesessener Hausarzt? Der Inbegriff des vertrauenswürdigen Nachbarn! Dass der katholisch ist, kommt da nur als i-Tüpfel dazu. Und obendrein soll ihm das alte Inquistionshaus schon länger gehören. Und dann sitzt da einer mitten in der Nacht vor diesem Alptraumgrundstück in einem Mercedes-Benz, sieht dem Onkel Doktor merkwürdig ähnlich, macht sich in rasender Fahrt aus dem Staub, mit einem Auto, auf dem hinten ein Arztzeichen drauf sein soll."
"Kannst sogar Detektiv werden", meinte Oskar Dimpfl versöhnlich grinsend. "Messerscharf geschlossen! - Was wisst's ihr eigentlich über diesen Berufskollegen von mir, den Wappler?" fragte er an Herwig Perchten gewandt.
"Entschieden zuwenig, habe ich jetzt den Eindruck! Es gab gar keinen Grund, auf den ein besonderes Augenmerk zu richten. Niemand hielt es für notwendig, nachdem die Gräfin meinte, das seien harmlose Leute. Hat sich die gute Frau vielleicht getäuscht. Kurz vor Kriegsende, im Winter '44/'45 kamen Wapplers mit einem Transport aus Breslau hierher, weil sie ausgebombt waren und die Russen näher rückten. Dass der katholisch ist, schien fast selbstverständlich. Schlesier sind meistenteils römisch gläubig. Heinrich Wappler war ein frisch approbierter jüngerer Arzt und zur Betreuung der einsetzenden Flüchtlingsströme von der Wehrmacht abgestellt. Nach Kriegsende konnten sie nur hier bleiben und Heinrich Wappler richtete seine Praxis ein. Man brauchte ihn ja auch dringend. An allen Ecken und Enden fehlte es an geschulten Leuten. Viele kamen in den Kriegswirren ums Leben. Allerdings, sonderlich viel helfen konnte er auch nicht. Es gab doch kaum Arzneien. Alles hin."
"Und dass die Besitzverhältnisse des Hauses dort gewechselt haben können?" forschte Oskar Dimpfl weiter.
"Tja, das ist wirklich eine Nachlässigkeit von uns", gestand Herwig Perchten unumwunden. "Das Anwesen ist denkmalgeschützt, gehörte seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts der Stadt. Von Anfang der Dreißigerjahre, bis etwa 1955, war eine Kfz-Werkstatt drin. Irgendwann ging die den Bach runter und die Leute zogen aus. Seitdem stand alles leer, wurde nur leidlich in Schuss gehalten, weil das Denkmalschutzgesetz es so vorschreibt. Auch hier gab es keinen Anlass zu irgendwelchem Misstrauen, weil augenscheinlich nichts großartig passierte, was jeder Gemeinde- oder Stadtverwaltung in solchen Fällen sehr ähnlich sieht. Man kommt ja auch nicht auf den Gedanken, jemand erwerbe so was privat. Denkmalschutz ist sehr teuer. Auch dann, wenn nur unbedingt Notwendiges getan wird."
"Gräfin Dahlendorf erfuhr offenbar auch nichts darüber", warf Ingomar dazwischen. "Normalerweise bekommt die solche Änderungen als erste mit. Daran kann man sehen, mit welch ungewöhnlicher Verschwiegenheit alles über die Bühne gegangen sein muss."
"Aber diese Frau wusste es doch", beharrte Erfried.
"Wenn sie hier schon immer wohnte, dann ist das was anderes", wiegte Werner Lübbers bedächtig den Kopf unter der Kapuze. "Wo wohnt die denn, glaubst du?" - Erfried wies zum Haus gegenüber dem hölzernen Tor. - Werner Lübbers schaute kurz hin und nickte. "Da hat sie bestimmt sämtliches mitbekommen, was ein- und ausgeht. Unmittelbare Nachbarn sind irre neugierig. Wahrscheinlich sah sie den Doktor dort immer wieder mal hineingehen und sprach auch mal mit ihm. Und sonst gibt es selbst für eine sehr üble Tratsche über ein leeres Haus nichts zu erzählen. Unbewohnte Häuser sind für Klatschtanten langweilig, wenn sie nicht gerade abbrennen oder einstürzen. Darüber reden die nie, weil da niemand ist, über die oder den man herziehen und das Maul zerreißen kann."
"Das ist schon wahr", brummte Oskar Dimpfl. "Wir kennen's ja alle aus leidvoller Erfahrung. Den Lichtfresser konnt's nicht sehen und der Wappler als Brückendiener war unauffällig, weil der nach ihrer Meinung halt mal nach dem Rechten schaute. Da gab's nix zu ratschen. Und allen andern Leuten hier am Platz war's bestimmt eh egal, wem das alte Haus gehört, solang's koa Ratten gibt oder so was. Wirklich, eine recht g'scherte Sach'! Ganz schlau angefangen und eingefädelt."
"Wir sollten hier nicht noch länger herumstehen und endlich mal dieses Bluthaus in Augenschein nehmen, solange die Leute hier noch fest schlafen", mahnte der Träger der schwarzen Kutte.
"Wäre es nicht besser, wir schauen zum Haus von Dr. Wappler in der Klopfergasse?" wagte Erfried zaghaften Einwand.