"Ich geh mal wieder zu meiner Unterhaltung rüber. Wir haben dort gerade eine hitzige Debatte geführt, die mir aber Spaß macht. Kannst ja gern mal zuhören, wenn's dich nicht langweilt." Ingomar grinste wieder sein Jungengrinsen und strebte zum vorherigen Platz inmitten einer Gruppe dreier Männer. Alle bestimmt über zehn Jahre älter als Ingomar.
Erfried folgte nach kurzem Zögern, geriet mitten in angeregt laufende Unterhaltung. Kurz schaute er herum, ob vielleicht jene ihm unbekannte Freundin Ingomars irgendwo sei, von welcher Frau Perchten am Donnerstagnachmittag sprach und meinte, Ingomar wolle mit dieser viel mehr Zeit verbringen. - Keine entsprechende weibliche Person in Sicht.
Hager bis klapperdürr wirkender Mann erklärte gerade: "...und deshalb finde ich diese Studentendemonstrationen gegen den Vietnamkrieg auch ziemlich unsinnig. Merken diese ach so intelligenten Herren und Damen Studiosi denn gar nicht, dass sie von einer imperialen Macht für deren Zwecke missbraucht werden?"
"Meinst du die Sowjetunion oder China?" fragte Ingomar.
"Beide! Aber vordringlich, die Sowjetunion. Worin unterscheiden die sich denn schon von den gern geschmähten USA oder anderen? Doch nur in den Schlagworten. Sonst machen sie doch ganz genau dasselbe. Weshalb haben die es denn so nötig, ihre Bevölkerung dermaßen in der Bewegungsfreiheit und auch in allen anderen Freiheiten einzuschränken? Mich erinnert das ganz fatal an die unseligen zwölf Hitlerjahre."
"Also", warf einer der anderen ein, "ich bin nicht so ganz dieser Ansicht, das sei ohne weiteres einfach unter einen Deckel zu sperren, in einen Topf zu werfen."
"Weshalb denn nicht?" Der hagere Mann lachte verächtlich. "Diese Regime unterscheidet doch letztlich nur, dass die Hitlerbande den Krieg verlor und die Stalinbagage auf der Siegerseite stand. Massenmord übelsten Ausmaßes haben sie alle begangen. Und das nicht zu knapp! Wo ist denn der wirkliche Unterschied zwischen Rassenhass und Klassenhass? Nur im benannten Gegenstand des Hasses. Aber in beiden Fällen werden Menschen aus rein ideologischen oder noch niedrigeren Gründen für minderwertig erklärt und ausgelöscht. Hass, ist nun mal Hass. Egal, wie ich den begründe. Und Leichenberg, ist Leichenberg! Ob der wegen der Rasse oder wegen der Klasse aufgetürmt wurde, ist schnurz. Tot sind die alle, faulen und stinken schließlich, werden ins Krematorium gesteckt oder in Massengräbern verscharrt."
"Na, meinetwegen", warf der Vorherige wieder ein. "Das ist nicht so ganz aus der Luft gegriffen. Aber du hast auch Vergleiche mit den weitgehend freiheitlich demokratischen USA gezogen. Darin liegt doch wohl eine Übertreibung, findest du nicht?"
"Nö! Nicht die Bohne!" Der Hagere lachte wieder. "Die haben doch nur ihre Menschheitsverbrechen schon vor hundert Jahren begangen, als sie die Indianer ausrotteten. Schau dir mal alte Bilder von diesen armen zerlumpten und ausgehungerten Indianern an. Besser als KZ-Opfer sahen die nicht aus. Und die Propaganda in den USA ist seit dem amerikanischen Bürgerkrieg eigentümlich und erschreckend gleich. Hat sich jemand von euch einmal die dortige Berichterstattung aus dem Sezessionskrieg der Nordstaaten gegen die Südstaaten genau angesehen?" Er blickte herausfordernd lächelnd alle nacheinander an.
"So genau nicht. Man ist ja kein Geschichtsprofessor", schüttelte Ingomar den Kopf.
"Das ist aber jammerschade!" stellte der Hagere fest, nachdem auch sonst keine eindeutige Äußerung kam. "Ich hab' mir die Mühe gemacht. Die Bildberichterstattung deckt sich genau mit der über die Nazigreuel in den Konzentrationslagern. Genau dieselben ausgemergelten Leichen oder wandelnden Schatten ihrer selbst. Ganz ähnliche Haufen von alten Kleidungstücken, persönlichen Gegenständen aller Art, die von Gemordeten stammen sollen, wahrscheinlich auch solchen bedauernswerten Opfern herrührten. Und auch fast deckungsgleiche Berichte über die bösen, brutalen Lagerschergen. Ist das nicht merkwürdig? Da liest und sieht man Dinge, die im vorigen Jahrhundert abgelaufen sein sollen, natürlich bei den besiegten Feinden nur, welche sich fast wortwörtlich und bildlich mit denen über die Verlierer des zweiten Weltkriegs decken. - Sehr auffällig, dieser Gleichklang!"
"Hat Grausamkeit nicht stets dasselbe scheußliche Gesicht?" fragte älterer Herr eindringlich dazwischen, welcher bisher schweigend zuhörte.
"Aber selbstverständlich, lieber Freund!" bestätigte der Hagere. "Das wollte ich damit auch nicht entfernt in Abrede gestellt haben. Ich bin mir voll bewusst, dass die Südstaatler mit irrem Hass ihre Kriegsgefangenen aus dem Norden betrachteten. Ganz schweigen will ich von dieser dumpfen Bande im Hitlerreich. Bitte, ich möchte nicht missverstanden werden! Was ich mit dieser Ausführung sagen will: Wir sollten genauestens und sehr misstrauisch so etwas prüfen, denn Propaganda hat ebenfalls stets das gleiche verlogene Gesicht! Wenn derartiger Gleichklang vorliegt, dann haben wir es mit einer mehr oder weniger perfiden Mache zu tun, wohinter erst die eigentliche Wahrheit liegt. Man sollte doch gegenwärtigen, dass die damaligen Südstaatler im Endlauf des Sezessionskrieges schlichtweg ihre Gefangenen auch nicht mehr ernähren konnten, weil sie selbst kaum noch was zu beißen hatten. Genauso verhielt es sich im zweiten Weltkrieg. Die Versorgung war gegen Ende ganz allgemein so gut wie zusammengebrochen."