Erfried ging auf Ingomars letzte Bemerkungen nicht ein. "Dein Bruderherz wollte nicht aufdringlich erscheinen? Wie denn das?" triefte hohnvoll aus seinem Mund. "Der ist doch sonst in allen Dingen so forsch."
"Jetzt weiß ich natürlich, woran das lag. Und ich nehme an, Gundram schwante so langsam, welchen Mist er veranstaltete und traute sich nicht, dir zu begegnen. Wir anderen haben uns nichts dabei gedacht, nahmen an, du würdest ohnehin wiederkommen wollen. Obwohl wir es etwas unverständlich fanden, weshalb du so sang- und klanglos verschwunden warst. Dass du dich nicht mehr meldetest und ausbliebst, schrieben wir dem Umstand zu, du seist anderweitig eingespannt. Und heute musste ich sowieso in diese Richtung, wollte das mit dem Schlüsselbund dann gleich erledigen."
"Danke dir!" sagte Erfried knapp, Gerd Wesseling in Gedanken, welcher nie wieder am Bahnhof aus jenem klapprigen kleinen Firmenbus stiege. Nie wieder säßen sie zusammen und schauten aus glänzenden Augen Schmuddelbilder in Heften an, lachten miteinander. Nie wieder träfe er Gerd auf jener verwunschenen Zauberlichtung. Er wollte rasch davon und nach Hause, mochte Trauer und Schmerz keinem öffentlich zeigen, wandte zum Gehen.
"Du hast ihn gesehen, nicht wahr?" Ingomars Stimme, eindringlich dunkel von hinten.
Mitten in ausgreifendem Schritt verhielt Erfried, setzte erhobenen linken Fuß langsam zu Boden. Ebenso langsam wendete er, stand wie festgewachsen, starrte Ingomar an. Erfried wusste sofort, worauf der andere anspielte, wollte es auf keinen Fall wahrhaben. Offener Mund, bleiches Gesicht. "Wen soll ich gesehen haben?"
"Den, der die Helligkeit mitnimmt!"
"Was meinst du damit?"
"Du weißt, was ich meine, Erf! Du bist ihm begegnet. Ich kann es spüren. Schon meine Mutter merkte es genau, als du sie den einen Nachmittag im Garten antrafst. Wir alle können es sehen und fühlen. Auch Gundram selbstverständlich. Weshalb er wohl meinte, keine Zeit verlieren zu dürfen und sich dann so schwachsinnig anstellte, dir damit Angst einjagte. Man sieht es auch an deinen Augen. Sie haben winzige schimmernde Schlieren seitdem bekommen. Ich wollte dich bei unserer ersten Begegnung warnen. Er oder es versteckt sich im gleißenden Licht und hinter dem, was du Elfenbrücken nennst, die in Lichtbahnen tanzenden Stäube. Dort ist sein Platz. Dort bemerkt ihn kaum wer."
"Wenn ihr das wisst, warum warnt ihr die Leute dann nicht?" Erfrieds Vorwurf.
"Wer würde das glauben? Du weißt doch jetzt selbst, wie es ist. Du hast dich ebenfalls nicht getraut, etwas darüber zu sagen. Du musstest fürchten, man hielte dich günstigstenfalls für überspannt. Wahrscheinlicher aber, für einen Spinner oder Lügner."
"Und warum unternehmt ihr nichts dagegen?" Erfried kehrte wieder zur Bank zurück, schaute auf Ingomar herunter.
"Wir können ihn nicht sehen! Nur seine schattenhafte Gegenwart nehmen wir wahr und seine raubenden Auswirkungen."
"Was? - Das glaube ich nicht! Inzwischen weiß ich nämlich, dass schon eure Vorfahren vor Jahrhunderten sich des Glanzdiebs bedienten oder mit ihm unter einer Decke steckten. Auch die Grafen von Dahlendorf spielten dabei ihre ungute Rolle. Das stimmt doch, oder willst du es abstreiten?"
"Du hast dich kundig gemacht? Sehr gut!" stellte Ingomar befriedigt fest. "Glanzdieb nennst du ihn? Eine sehr gute und treffende Bezeichnung. Aber es ist nicht ganz so, wie du augenblicklich meinst. Sie bedienten sich keineswegs des Glanzdiebes. Es gab einen Kampf. Unsere Ahnen mussten mit dieser finsternden Macht letztendlich Ausgleich finden. Das war so, ist so und wird immer so sein. Alles hat seinen Widerpart."
"Der Räuber der Farben steckt euch allesamt also in die Tasche?" höhnte der Junge.
"Ganz so, ist es auch wieder nicht. Nichts und niemand ist allmächtig. Nichts und niemand kann alles, weiß alles oder sieht alles. Jeder hat in dem großen Spiel seine Rolle auszufüllen, nimmt den jeweiligen Platz nach seinen Fähigkeiten ein. Man braucht Verbündete, muss miteinander übereinkommen, gewissermaßen Absprachen treffen, Verträge schließen. Am besten sind selbstverständlich Freundschaften oder andere Liebesbande."
Erfrieds Gesicht verriet, wie heftig es hinter seiner Stirn arbeitete. Leise fragte er dann misstrauisch: "Habt ihr mir etwa eine Rolle zugedacht, weil du von Freundschaften redest?"