Herwig Perchten schilderte kurz aber eingehend ihre Erlebnisse. Alle drei Wächterinnen lachten aus vollem Halse, nachdem er die Geschichte mit dem Donnerschlag heruntergestürzter Kisten erzählte. Gelöste Stimmung, trotz fortgeschrittener und jetzt sogar früher Stunde. Letzte Anspannung fiel von den neun Anwesenden ab.
"Möchtet ihr noch einen kleinen Imbiss, bevor wir endlich schlafen gehen können?" Wieder zeigte die Frau des Hauses bezauberndes Lächeln. Trotz ersichtlicher Übernächtigkeit, voller Anmut.
"Gern, meine Liebe! Aber bitte keinen unnötigen Aufwand. Wenn etwas gleich greifbar ist, dann ist es in Ordnung. Sonst holen wir uns selber etwas aus der Küche oder der Speisekammer."
"Nein, nein, das ist kein Aufwand", beruhigte sie. "Wir mussten ja sowieso hier Stellung halten, konnten dabei auch solche Vorbereitungen treffen. Wir haben uns selbst vorhin erst einen Imbiss zubereitet und dabei natürlich auch an euch gedacht. Ist doch selbstverständlich!"
"Das ist wirklich ganz lieb von euch allen, liebe Freundinnen", dankte der Hausherr.
"Im Speisezimmer steht alles bereit." Frau Nelda wies einladend zum Durchgang.
Es gab heißen Tee und Kaffee, Säfte und verdünnten Wein, sowie eine fast überbordende Platte leckerer Schnitten. Dazu heiße Suppe in großem Wärmebehälter. Gundram und Erfried griffen sofort zu, mittlerweile ausgesprochen hungrig, hörten lediglich nebenbei und halbem Ohr leise Unterhaltung. Erste Besprechung. Kommendes Wochenende sollte der Schutzbereich möglichst bis über gesamte Innenstadt ausgeweitet werden.
"Hoffentlich haut das hin", sorgte Werner Lübbers, löffelte in einer Suppentasse. "Lange halten die gesetzten Sperren nicht vor. Auch werde ich das dumme Gefühl nicht los, unser Feind bereite uns noch eine böse Überraschung. Der Brückendiener ist kein Dummkopf! Er bewies über Jahrzehnte, wie verschlagen und schlau er ist. Er allein kann uns ganz unverhofft übel mitspielen."
"Keine Frage", stimmte Swantraut zu. "Aber wir rechnen doch anderweitig mit Entlastungsangriffen. Das bindet zwar die dortigen Wächter, aber dafür auch Kräfte unseres Feindes."
"Ich rechne zusätzlich mit etwas anderem." Werner Lübbers klang düster.
Swantraut sah ihn nachdenklich an. "Du hast recht. Ich sollte nicht nur an Offensichtliches denken. Was unsereinem selbstverständlich, ist dem Lichtfraß oder dem Brückendiener schon lange geläufig. So einfach, wie ich eben meinte, wird er es uns nicht machen. Aber was könnte da noch kommen?"
"Vordringlich ist, den Brückendiener fassen und unschädlich machen!" Harte Worte Frau Neldas. Kurzes grübelndes Schweigen folgte, dann fuhr sie fort: "Alles spricht dafür, dass es schon immer ständig heimliche Helfer hier gab, von denen wir nichts erfuhren. Den einen oder anderen kannten wir ja, fanden Wissen und Beobachten besser, auf diese Art über mögliche Unternehmungen rascher im Bilde. Wir wiegten uns zu sehr in Sicherheit und glaubten, wir haben alles im Griff. Wieder ein schlauer Spielzug der Gegenseite. Allein die Tatsache der Gruft im Richthügel sagt alles. Und der missliche Umstand mit dem klammheimlichen Verkauf des Bluthauses zeigt gleichfalls, mindestens noch eine weitere Person treibt ihr Unwesen mit dem Lichtfraß, oder trieb es. Es könnte ja auch sein, man gab sozusagen nur das Fährmannsruder an Heinrich Wappler weiter. Schließlich muss das während der Wirren zu Kriegsende oder danach abgelaufen sein, als vollends alles drunter und drüber ging. Aber genau wissen wir es nicht. Und nach all den Jahren sind ganz sicher sämtliche Hinweise und Spuren längst und sehr sorgfältig verwischt."
"Inzwischen gehe ich von mehr als nur den beiden uns mehr oder weniger bekannten aus", sagte Ingomar zwischen zwei genussvollen Bissen in Schnitte mit kaltem Braten, Salatblatt und Salzdillgurkenscheiben.
"Richtig! Diese weibliche Erscheinung des Glanzdiebes weist darauf hin. Nicht nur Heinrich Wappler kann als Brücke dienen", pflichtete Frau Nelda bei. "Ich vermute inzwischen, jene weibliche Erscheinung ist bereits eine recht fortgeschrittene Wandlung. Unser Feind geht gezielt mehrgleisig vor, benutzt aber vornehmlich den männlichen Teil. Er ist schon fast herüber!"
"Wir müssen auch noch herausfinden, wem dieser grässliche Bungalow auf dem Richthügel gehört oder wer ihn bauen ließ. Ein ziemliches Versäumnis von uns. Wir sind nachlässig gewesen! Viel zu nachlässig", räumte der Hausherr Fehler ein. "Ich werde mich schnellstens auf dem Liegenschaftsamt deshalb umtun", versprach er.
Oskar Dimpfl beklagte noch immer den Schaden an seinem BMW, verabredete Waffengang am späteren Vormittag in Dr. Wapplers Sprechstunde. Ilse-Lore Schuler und Swantraut Perchten stimmten sofort zu, sahen darin sogar eine Art Vergnügen.
"Eine Sprechstunde habe ich noch nie gesprengt", bekannte Ilse-Lore Schuler belustigt. "Ist mal was ganz anderes! Aber was erzählen wir dem, wenn der aller Erwartung zum Trotz doch nur ein ganz popliger Onkel Doktor ist?"
"Irgendwas mit Unterleibsbeschwerden. Das kommt immer gut", lachte Swantraut hemmungslos. "Wenn er nicht durchblickt, dann überweist er sowieso zum Frauenarzt oder einem anderen teuren, abartigen Ferkelkollegen." Sie lachte abfällig, schätzte Frauenärzte und ähnliches offenbar nicht hoch.