"Du bist überwältigt, was?" Gundram schüttelte Lachen. Lautloses Lachen. "Nicht gleich weinen vor Freude, mein frisches Bruderherz. Du wirst dich schon noch daran gewöhnen. Von jetzt an wirst du wissen und lernen, was das bedeutet. Viel wirst du lernen müssen. Aber es wird dir sicher nicht schwerfallen, du bist doch schließlich kein dummer Bengel."
"Warum?" Endlich gelang Erfried ein Wort und bekam es auch über die Lippen. Schwach stand seine Frage. Zartes Gespinst, welchem schon leisester Hauch gefährlich, es sofort zerrisse.
"Warum?" Gundrams Gesichtsausdruck verfinsterte scheinbar, kehrte aber sogleich wieder in spöttische Bahnen zurück. "Wie kannst du so eine Frage stellen: Warum?! - Gleich nachdem du im Garten aus dem Dreck hochkamst, stand sofort fest, dass wir es sind, die zusammengehören. Wir beide sind von jetzt an untrennbar verbunden. Das ist das Wesen der Blutsbrüderschaft. Blutsbrüderschaft ist enger, viel enger als die Bindung zu Geschwistern. Was ich denke, was ich will und was ich tue, das wirst du spüren. Genauso ist es anders herum. Ich werde wissen, was du willst." Wieder lachte er offenbar ekelhaft.
"Du hast mich nicht gefragt, ob ich will", wagte Erfried widerstandsarmen Einwand.
"Das brauchte ich nicht. Das war uns vorgezeichnet. Daran gab es nie einen Funken Zweifel, Brüderchen klein! Ich werde dich lehren, was du wissen musst. Warte ab, dann bringe ich dir nach und nach alles bei." Herrische Handbewegung verwehrte weiteres. "Lass' uns zu den anderen gehen. Die sollen ruhig sehen, dass wir Ketten geschmiedet haben, Kletten geworden sind. Es wird auch gleich deine erste Schulstunde damit sein." Widerspruch erwartete er keinen, wollte ihn auch nicht dulden, griff den Jungen, legte rechten langen Arm klemmend um dessen Schultern, zerrte ihn richtiggehend fort. Hinaus in dunkleren kleinen Flur.
Erfried blieb unfähig für jede Gegenwehr. Gleich aufgezogenem Spielzeugroboter machte er einen Schritt zum nächsten, steif und unbeholfen. Bleiern traniger Traum. Er wollte schreien, davonlaufen, flüchten, raus aus diesem Alptraumhaus, fort in die Sicherheit der kleinen Wohnung in der Bachgasse. - Nichts ging! Seine Beine gehorchten einfach nicht.
Türen schwangen scheinbar von allein zurück. Als Schatten huschten andere Gäste des Hauses ins Gesichtsfeld, würgten ihre Stimmen durch Watte. Leises Klimpern des Klaviers. In Fetzen gerissen sprangen dunkle Worte heran, verschwanden im Hintergrund, kehrten um, kreisten einige Male, als wollten sie feststellen, ob er es auch tatsächlich sei, sausten davon. Höhnische Fratzen.
Selbst die Germania auf dem übergroßen Gemälde im Vorraum zeigte böses Lächeln in blutigem Mund. Heiße Flammen brannten in ihren Augen. Hämische Genugtuung auf Lippen. Gesichter wandten von der Garderobe her. Münder stellten unverständliche Fragen. Anschließendes Lächeln wurde augenblicklich teuflisches Grinsen. Statt Augen, stierten leere Höhlen. Zähne fletschten hinter gespaltenem Fleisch, verlängerten in geiferndes Raubtiergebiss. Willenlos wurde Erfried durch himmelhoch hell ragendes Türrechteck ins große Wohnzimmer geschoben. In einen Saal! Ausschweifender Saal, dessen wahre Maße erst in diesem Zustand offenkundig.
Sicher, Wände, Fenster und Einrichtungsgegenstände standen wie gewohnt oder vorgetäuscht. Aber rückseitig raumte ungeahnte Weite, eröffnete echtes Ausmaß nur jetzt dem Blick, zeigte Abgründe. Zugänge in anderes. Durchlässig flüssige Tapeten, statt Mauersteine. Doch zur Flucht taugte alles nichts.
Was mag dahinter liegen? Die Alptraumwelten der Perchtens? Zugang zur Ronnburg? Das echte Tor zum Unterschlupf des Glanzdiebes, des Farbenräubers? Kommt er auch noch zu Besuch, seinen Anteil an Kurzweil holen? Oder ist der schon längst hier, steht vornehm lauernd in irgendeiner verborgenen Ecke, diebisch räuberisch erfreut?
Allein im fast unermesslichen Raum zwischen gutgelaunt schwatzenden Gästen, Gundrams Arm um die Schultern. Eingefangen, verlassen von aller Welt und hilfreichen Geistern. Blut tropfte zäh und gering von ihren rechten Armen auf blanken Parkettfußboden. Teilweise noch im Fall vermischt, platschte es in gemeinsame kleine Flecken, gerann dort langsam. Fester Bestand. Verkrustung.
Wieder drangen Gesichter unwirklich näher, wirbelten unverstandene Worte. Lächeln zeigte nichts als Schadenfreude oder Entzücken über zarte Beute. Fraßlust! Großes Rudel Raubzeug traf anscheinend Vorbereitungen für kommende Mahlzeit. Weiches Fleisch, blutend jung und frisch gerissen. Keines der Gesichter erkannte er wirklich, obwohl er sie schon längst vorher sah. Zugeordnete Namen lang verblichen, ohne Bedeutung.
Frau Nelda kam herüber, oder das, was sie darstellte. Sie lächelte furchterregend freundlich, hoch erfreut über gelungenen Fang ihres Sprosses. Mütterliche Löwenbestie! "Wo habt ihr denn gesteckt?" Ihr Blick fiel zu blutigen Flecken am Boden. "Ach du liebe Zeit! Was habt ihr denn angestellt, ihr Kindsköpfe? Blutsbrüderschaft, was? Hättet ihr nicht wenigstens Pflaster aufkleben können, bevor ihr wieder hereinkommt? Das schöne Parkett! Nur gut, dass es lackiert und versiegelt ist und hier nichts einsickert."