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Abermal, Kapitel 01, Seite 01

flackert


Nach sehr langer Zeit kommt man irgendwann wieder an Orte, Stätten oder in Gegenden, steht verwundert, weil man sie ganz anders in Erinnerung behielt. Eigenartig, nicht wahr? Und doch kann alles erkannt werden. Jeder Winkel, jeder Stein, jede Wand, jeder Baum atmet Wiedererkennen aus.

Trieb ich hier vor vielen Jahren mein Wesen? Alles aus Vergangenheit wehende, jeder verbliebene Eindruck, gehörte Stimmen und Töne, kennzeichnender Geruch, die Farben, einfallendes Licht und nicht zuletzt beständig aufgenommene Stimmung hinterließen ganz anderes Bild. Unwirklich! War ich so oft hier, hat es ganzen Lebensabschnitt geprägt?

Nach Lage der Dinge, zweifellos. Tatsachen sprechen für sich, mag man nicht glauben, Täuschung allerhöchster Durchtriebenheit sei ausgebreitet. Nicht entfernt anzunehmen! Wozu sollte das dienen? Es sei denn, jemand oder etwas verfolge ganz bestimmten Zweck. Aber welchen? Ließe man alles weitgehend in Ruhe, bestünde kein Anlass für Fragen. Auf einfachste Art viel ausgeklügelter. Kaum jemand wollte nachforschen, ob eigener Augenschein stimme.

Wie lange ist das mittlerweile her? - Meine Güte! Über dreißig Jahre! Mehr als ein Vierteljahrhundert!

Bezeichnet man dies so, 'Vierteljahrhundert', erscheint es viel länger als tatsächlich. Man meint sogar, von Urzeiten oder anderen Welten sei die Rede. Fern wie das Mittelalter, Altertum oder mehr. Auch glaubt man gern, bei jenen Erinnerungen gehe es um Schicksale verblichener Ahnen, denen die Erde lang schon leicht geworden. Übermäßig viel fehlt nicht, und irgendwann stünde man hier und stellt fest, dass vier Jahrzehnte vergingen. In letzter Nennweise wirkt es jedoch nicht dermaßen gewaltig.

Vierteljahrhundert klingt nach geschichtlichen Zeiträumen. Man meint, vielbesagt berühmter Zipfel des Mantels der Geschichte wedele am Gesicht vorbei. Leider nur lästige Fliege, Staubflocke oder ähnliches. Oder trocken dumpfer Geruch, schon immer hier eingelagert, unverändert in all den Jahren. Muffpudding, zu Flusen gedörrt? Solches ist hartnäckig, gehört wohl zu bestimmten Dingen, wie Tag zur Nacht. Da behalf auch andere Anordnung nichts und gefrischte Farbe ebenso wenig. Nur verstellte oder getünchte Oberfläche über beharrlicher Vergangenheit. Doch bemerkt man es nur bei entsprechendem Abstand. Zeitabstand ist am geeignetsten.

In dieser kleinen Stadt verbrachte ich meine Kindheit, wuchs heran und zog später fort. Und da stand ich nun, in hohl dunkel anmutenden Gängen meiner alten Schule. Vor bald endlos langer Zeit verlassen und nie wieder betreten. Mein Lebensweg wies andere Richtungen. Bei meinen seltenen Besuchen dies gewalttätige Gemäuer lediglich von außen gesehen, schier ängstlich Abstand gehalten. Sicher, ins Rektoratsbüro kam ich später noch einmal, wegen beglaubigter Abschrift meines Entlassungszeugnisses. Aber sonst? Nein, nie wieder in hiesige Schulhausflure gekommen, niemals mehr durch das zweite große Tor gegangen, wodurch ich bis zuletzt zum Klassenzimmer musste. Auch den Pausenhof links liegengelassen. Daran vorbei, weil das Rektoratsbüro gleich hinter erdrückend amtlichem Haupteingang dräut.

Anblick meiner alten Schule erzeugte stets wenig Freude. Jedes Mal beschlich dummes Gefühl, nicht oder ungenügend erledigter Hausaufgaben. Donnerwetter des Klassenlehrers folgten gewohnt. Zu damaligen Zeiten auch Züchtigung. - Mistkerle! - Kein Grund für sonderliches Verlangen, Räume lässlicher Qual aus hoffnungsloser Langeweile und lastendem Druck wiederzusehen. Masochist bin ich nicht. Überlasse ich anderen. Wenn es denen gefällt: Bittesehr! Außerdem sind solche riesigen Schulgebäude einfach nur hässlich und drohend, erinnern leidig an andere Anstalten.

An Klassentreffen nahm ich nie teil, obwohl in fünfjährigen Abständen dazu eingeladen. Weshalb nicht? Unbestimmtes Gefühl, merkwürdige Scheu? Die anderen hielten mich bestimmt für überheblich. Längst ging ich einen Weg, der von ihrem weit abwich. Jedenfalls von dem, der meisten. Soweit mir bekannt, schlugen sie fast ausnahmslos für Volksschüler weitgehend vorgezeichnete Bahn ein. Sie durchliefen Handwerkerlehren, wurden Gesellen, einige nach Jahren auch Meister. Drei oder vier nutzten zweiten Bildungsweg, erreichten Mittlere Reife oder Reifeprüfung. Zwei besuchten später sogar Hochschulen. Doch im Gegensatz zu mir, kamen sie zu Klassentreffen.

Unser ehemaliger Klassensprecher Wolfgang Zink wies einmal brieflich darauf hin. Unverständnis durch die Blume. Dabei lagen meine Gründe sicherlich nicht in Überheblichkeit oder bloßem Zeitmangel. Mit den Kameraden aus der Volksschule verband mich wesentlich mehr, als mit jenen späterer Laufbahn. Innerlich stets einer von ihnen geblieben. Alberne Hochnäsigkeit ist nicht meine Art. Ich hätte mir einfach Zeit genommen. Mittlerweile liegt letzte Einladung zum Klassentreffen über zehn Jahre zurück. Entweder verlor Wolfgang Zink die Lust oder er lebte nicht mehr. Jedenfalls hörte ich nie wieder von ihm. Er wohnt auch nicht mehr hier.

Trotzdem trieb etwas, überwand alten Widerwillen. Mit den Jahren schwinden auch tiefsitzende Ängste. Tobende Lehrer brauchte man nicht mehr fürchten, ohnehin größtenteils in verdient kaltes Grab gesunken, längst von Würmern vernascht. Und riesige Angst packte mich selten, spürte für diese Kommissbeutel zuletzt nur kalte Verachtung. Die konnten mich mal!



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Mannie Manie © 1999
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