Der gräfliche Spross schaute hohe Aufbauten entlang. "Jetzt muss ich erst mal überlegen, wo hier etwas in der von dir gewünschten Art überhaupt sein könnte."
Erfried sagte nichts, schloss die schwere Tür, machte einige Schritte vorwärts, betrachtete ihn aufmerksam. - Ob das der künftige Graf ist?
Jedenfalls dürfte er ein Enkel der alten Gräfin sein, zumindest ihr Großneffe. Ingomars Ausstrahlung besaß dieser jugendliche Grafenabkömmling nicht entfernt. Und es lag auch nicht am minderen Alter, sondern an dessen Persönlichkeit. Ingomar besaß gewisse Animalität und etwas Geheimnisvolles. Aring von Dahlendorf erreichte das nicht annähernd, wirkte nur unnahbar, sonst nichts. Rührte wohl aus sehr verschiedenen Lebensweisen, gleichwohl genossener Erziehung.
Zugegeben, er sah keinesfalls hässlich oder abstoßend aus. Hochgewachsen und durchaus nicht unsportlich, machte er dennoch gelinden Gummipuppeneindruck. Seine Bewegungen verliefen nicht anmutig, vielmehr merkwürdig schlaff und ziellos, als seien Bänder seiner Gelenke ausgeleiert. Nein, trotz gezeigt abstandhaltender Art und Weise: Ein ziemlich langweiliger Zeitgenosse! Dazu dessen seltsames Adeligengesicht, leicht wulstige und auffallend rote Lippen, schmaler und länglicher Kopf. Aring von Dahlendorfs Gesichtsform wirkte, als erduldete er lange Zeit links und rechts zwei Bretter, zusammengepresst von Schraubzwingen. Viele Leute mochten solche Erscheinung 'aristokratisch' nennen und sogar schön finden.
Ausgesprochen unbeeindruckend! fand Erfried. Nichts, gar nichts entdeckte er, was bereits beim ersten flüchtigen Anblick Ingomars in Bann zog. Geld und Adel sind eben längst keine Gewähr für echte Ausstrahlung. Erfried traf in seinem jungen Leben außer Ingomar schon andere, wesentlich eindrucksvollere Menschen beiderlei Geschlechts. Und die nannten weder Geld, noch Adel ihr Eigen.
Ihm fiel ein, seine Mutter schwärmte einst mit einer Kaffeetratschfeundin von angeblich klassischen Antlitzen englischer und deutscher Adliger. Beide konnten gar nicht genug kriegen vom Bildband auf ihren Knien. Damals schon verstand er überhaupt nicht, was daran so klassisch sein sollte? Gesichter antiker griechischer Statuen zeigten zwar Ähnlichkeiten, aber zumindest erschienen diese einigermaßen verhältnisgleich. Keineswegs dermaßen großzinkig, unpassend schmal und langgezogen. Genauso, Portraits aus der Renaissance und dem Barock, wo vergleichbare Gesichter glotzäugig herausstarrten. Letztere empfand er sogar ausgesprochen hässlich und geschmacklos aufgedonnert.
"Ich glaube, wir sollten zuerst einmal oben entlang nachforschen", riss ihn Aring von Dahlendorf aus Betrachtungen. "Wenn wir Pech haben, dann finden wir womöglich gar nichts in der von dir gewünschten Art. Du musst wissen, dies hier ist lediglich etwas mehr als ein Drittel der gesamten Bibliothek. Der andere und größere Teil befindet sich auf dem Landsitz."
"Ach, das wäre ja schade. Da kommen wir bestimmt heute nicht dran, falls überhaupt." Wieder ein Dämpfer für Erfried.
"Wenn nur mein Vater erreichbar wäre. Der kennt sich in den vielen Büchern fast schlafwandlerisch aus. Da müssten wir nicht lange suchen oder wüssten gleich, woran wir sind, ob solche Bände hier wären oder nicht. Aber der ist, wie so oft, mal wieder in Gutsverwaltungsgeschäften unterwegs. Und du hast keine Idee, wie der Titel eines solchen Werkes sei oder von wem geschrieben?"
"Nein, das tut mir sehr leid! Danach zu fragen, vergaß ich in der Buchhandlung ganz, weil Frau Zeisig ans Telefon musste."
"Dann lass' uns mal oben schauen", meinte Aring von Dahlendorf entschlossen, ging zur Wendeltreppe rechts und erklomm sie.
Sie quietschte und schwankte bedrohlich, während beide hintereinander hinaufstiegen. Scheinbar nicht besonders gut befestigt. Wohl auch kaum für zwei vorgesehen. Aring von Dahlendorf ging in entfernten Winkel drangvoller Regale voraus. Hölzern ächzte und knarrte schmale Balustrade. Aufmerksam besah er alte Buchrücken, griff schließlich zielgerichtet einen Band heraus. Bestimmt mehr als fünfzig Jahre alter gewalttätiger Wälzer: 'Fundorte in der Heimat II'!
"Das hier könnte vielleicht etwas sein." Er blätterte kurz durch. "Nein, das ist was über alte Bauernhäuser und ihre vorgeschichtlichen Ursprünge. Aber hier sind noch einige andere mit gleichem Titel und anderer Nummerierung."
"Was meinst du, sollten wir erst einmal die allesamt nehmen und ich schaue sie mir unten durch? Oder wäre das zu aufwendig?" fragte Erfried vorsichtig.
"Nein, nein, das ist glaube ich auch besser. Hier in der Ecke ist sowieso nicht genug Licht. Wenn, dann könnte zuvörderst in diesen Bänden etwas über die Ronnburg drinstehen. Sehr viel wird es wohl nicht sein. Nimm schon mal!"
Er griff noch zwei weitere große Bücher heraus und packte sie Erfried auf. Drei zusätzliche hievte er selbst. Ausgesprochen niederdrückendes Gewicht besaßen jene alten Druckwerke. Bedacht setzten sie ihre Füße, stiegen äußerst vorsichtig die eiserne Wendeltreppe herab. Unten legten sie alles auf den großen Tisch.