Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nutzen und beiläufig mit Hagen sprechen? Wenigstens würde es von drückenden Fragen ablenken. Wie spät ist es denn? Bald Geisterstunde vorbei! Durchaus noch passend für gute Nachbarn und Freunde. Obendrein Wochenende und Fete.
Kurz entschlossen im Nachtdunkel durch rückwärtige Gärten. Seinen Fuß hinderten erstaunlich wenig Beschwerden, aber schmerzte noch spürbar. Er hinkte leicht. Beide Grundstücke trennte schwerst überwindliche Hecke. Unauffällige Pforte inmitten gewährte jedoch unverschlossen Zugang.
Kleine gemütliche Fete sollte es werden, weswegen Hagen Wiechert und seine langjährige Flamme Eleonore Pfeifer auch nur die Nachbarn Eckart Umgelter und Ralf Küppers, Eberhardt Kanngießer, einen alten Schulfreund samt dessen Dauerverlobter Elke Dellbrück einluden, sowie sechs weitere Gäste. Eckart kannte sie nicht näher.
Hagen Wiechert, früh ergraut, obwohl erst etwas über vierzig hinaus, sah ungeheuerlich seriös aus. Genau dies erbrachte vielleicht großen Erfolg als Psychoonkel. Er fragte, was Eckart so lange abgehalten habe.
"Nichts besonderes", log Eckart und nannte sich gleich Narr, weil gute Gelegenheit vertan, bohrende Besorgnisse wenigstens umreißen. Aber Anwesenheit nicht näher bekannter Gäste hielt ab. Er wünschte nicht, dass sie davon erfuhren, erzählte Hagen nur vom Missgeschick des Fehltritts auf Stein unter matschigem Schnee. "Es geht aber schon wieder einigermaßen. Gebrochen oder übermäßig gezerrt scheint nichts. Nur mit dem Auftreten hapert es noch, was aber auch langsam wieder schwindet."
"Das ist gut, lieber Eckart", nickte Hagen Wiechert. "Auf diese Weise brauche ich mich erst mal nicht auf Hausgehilfen von dir einstellen, die womöglich andauernd eine Tasse Zucker oder so was in der Art leihen wollen oder das Laub an und über den Heckenzaun harken." Beide lachten.
Plötzlich klingelte es Sturm. Kopfschüttelnd ging Hagen rasch zur Haustür und öffnete. Wissbegierig folgten sämtliche Gäste, Musik scholl vernehmlich aus offenen Türen.
Zweifelsfrei jeder Zoll ein Rentner mit Hut stand im Schein der Laterne am Eingang. Deren Licht ließ dessen grau geschmacksarme Kleidung noch grauer und greulicher erscheinen, gesamte gespenstische Erscheinung gleich mit. Er führte mürrisch Beschwerde wegen angeblichem Lärm, welcher bis in seine biederliche Behausung gegenüberliegender Straßenseite dringe. Hagen versprach gutgelaunt Besserung beklagten Umstands, mochte über Mitternachtsstunde hinausgerückten Abend nicht verderben lassen. Nachdem dieser Berufsoberrentner wieder zum Gehen wandte, schloss er rasch die Haustür, sperrte ,gräulichen' Anblick möglichst schnell aus.
"Warum sind Rentner bloß immer so völlig grau angezogen?" fragte Hagen zu Ralf Küppers gewandt.
"Ich weiß nicht, mein Lieber. Vielleicht kriegen sie die Klamotten von der Rentenkasse gestellt", meinte dieser trocken und grinste versonnen.
"Du meinst, die verdammte BfA in Berlin hat da ihre klammen Finger im scheußlichen Spiel?"
"Bestimmt, das sind doch Bundesbeamte. Übelster amtsumpfiger Krake."
"Das muss es sein", bescheinigte Hagen. "Sonst wäre das kaum begreiflich."
Gemeinsam in ausladenden Wohnsalon zurück.
Zwei der fremden Gäste mussten ein Pärchen sein. Sie sahen einander ständig mit dermaßen glücklichen Kuhaugen an, dass auch Eckart dachte, es gehöre geringe Gehässigkeit zum Wunsch, es sollten über ihnen mehrere Eimer Wasser in Kühle des Gefrierpunktes ausgegossen werden. Wenn es noch Gerechtigkeit im Himmel und auf Erden gab, wenigstens sofort tot umfallen, ob soviel aufdringlich zur Schau getragener Selbstzufriedenheit. - Selbstverständlich frisch verheiratete Holzköpfe! Und selbstverständlich nur aus Liebe! Posaunten dies auch lautstark herum, damit es jeder tunlichst erführe.
Eingedenk niederschmetternder Erfahrungen eigenverflossener Ehe, erschienen ihm reine Liebesheiraten schlicht unverantwortlich, falls ohne gleichwertige Vernunftgründe. Um nicht zu sagen: Das Dümmste von der Welt! - Weshalb scheitern sonst mehr als fünfzig von hundert Ehen, werden geschieden? Gegen Vernunftehen oder Geschäftsfreundschaften mochte Eckart gar nichts mehr einwenden. Bestimmen allerdings sachliche Belange dabei alles, stehen nicht gleichberechtigt neben Gefühlen, sind vorherrschend, dann fand er solche Verfahrensweise genauso falsch. Konnte ebenfalls zur Hölle auf Erden geraten.
Kurz darauf entspann Streitgespräch mit dem frisch vermählten Paar. Beide verteidigten gefühlige Ansichten ausschließlicher Liebesheirat ungestümst. Auch Ralf Küppers nahm in seiner unnachahmlichen Art Anteil.
"Weshalb soll heiraten grundsätzlich notwendig sein? Es geht euch doch NUR um die lautere Liebe, oder nicht? Da ist es doch eigentlich unnötig, sogar ziemlich befremdlich, besiegelt man das mit einem bestürzend nüchternen Rechtsgeschäft? Genau besehen, ist das nicht anders als Haus- oder Grundstückskauf. So etwas muss auch notariell beglaubigt und beim Liegenschaftsamt eingetragen werden." Eckart schaute beide Turteltauben schräg an.
Übereinstimmend entlarvende Begründungen: "Aber man muss doch seine Sicherheit haben..." oder: "Das ist dann eine viel weitgehendere Verpflichtung. Da kann man nicht einfach mehr sagen, dass man keine Lust mehr habe..." oder, ziemlich geistlos: "Das gehört sich einfach so, schon wegen der Kinder..." - Aha!
Ralf Küppers lächelte müde, machte vielsagende Handbewegung und grinste anschließend breit. Eckart wusste, dass Ralf Küppers schon einige Jahre recht zufrieden verheiratet. Ganz bestimmt kein Ehefeind.