Kring 02, 10. Kapitel, Seite 76


Möglich, dass der Schwarze Mann wieder auftaucht, wenn dir eine vergleichbare Veränderung bevorsteht. Möglich aber auch, der 'Befremdliche' kommt wieder, zum allerletzten Mal in diesem Leben und wird dich über die Schwelle begleiten. Die sogenannte unbeantwortbare Frage wird von ihm gestellt! Aber du brauchst vor ihm keine Furcht zu haben, er ist deine andere Seite, dein ergänzendes Ich. Geh auf ihn zu und begrüße ihn als deinen besten Freund."

Solche Empfehlung und Ansicht hörte Eckart noch nie. Im wahrsten Sinne des Wortes ,unerhört'. Doch sie rührte tief im Innern, ließ gesamte Anspannung vergangener Tage vollständig abfallen. Erleichtert und wie neu geboren nahm er genießerischen Schluck aus angebotenem Weinglas, lächelte und sagte zu Hagen: "Ich fürchte, du hast recht!"

Nach ehrlichem Dank an Hagen und Eleonore ging er zum Hinterausgang hinaus. Obgleich Schnee silbrig schimmerte, herrschte schier undurchdringliche Finsternis. Die Lampe über der Hintertür brannte nicht. Offenbar Glühbirne kaputt. - Ich hab doch diesen praktischen Kreisel! - Eckart fischte ihn aus der Tasche. Sofort blinkte das kleine Wunderwerk, wurde heller, tanzte, schwirrte und summte auf dem Handteller, beleuchtete Weg durch weitläufigen Garten.

An der Heckenpforte schaute Eckart zum eigenen Haus, entdeckte fahlen Lichtschimmer aus Rückfrontfenstern des großen Wohnraums. - Ich hab doch das Licht gelöscht, oder nicht? - Kurz verwundert. Sehr kalte Nacht. Er wollte unbedingt schnell in heimelige Innenwärme. Rasch allen Frost ausgesperrt und nach prüfendem Rundgang in schummrig erleuchteten Wohnraum. Wie angewurzelt stehen geblieben!

Alles überschlug, tobte ungebremst vor Augen, änderte in schlierende Streifen. Nichts besaß noch festen Halt oder Bestand. Die Dinge waren nicht mehr was sie sein sollten, verließen ihren Rahmen.

Wandel! sagte der Dunkle. Nun wirklich da, der Wandel. - ICH war da!

Jeder Winkel ringsum verschwamm. Einzig der kleine Kreisel, der Wirbler blieb zuverlässig. ICH setzte mich in einen Sessel gegenüber jenem höflichen Fremden, bekannt aus Zugabteil und unterirdischem Ort. Er lächelte freundlich. Kein Raum mehr vorhanden, lediglich nebliges Wabern unbegreiflicher Gegend. Nur ICH und der Wanderer. Nichts sonst.

"Nun, Träumer, du hast bereits vieles gelernt", sprach er mich an. "Du konntest dich in anderem Leben wahrnehmen. Ein Leben, das gleichzeitig und gleichberechtigt neben von dir als richtig empfundenem besteht. Bisher! Aber was ist das Richtige in unendlichen Möglichkeiten? Stets ist es das, was dir entspricht, mein Freund! Du erinnerst dich, der Schemen stöberte dich auf. Er ist wieder aufmerksam geworden und wird auch nicht nachlassen, dir immer wieder nachspüren. Darum musst du zwischen den Ebenen wechseln, willst du ihm nicht zum Fraß fallen."

"Ich verstehe nicht, wer oder was der Schemen, der Schatten sein soll und weshalb er mich bedroht", schüttelte ICH zweifelnd und verwirrt den Kopf. "Sag mir doch endlich, was das soll, Wanderer! Ich werde noch verrückt, wenn ich nicht weiß, warum er es auf mich abgesehen hat."

"Nun, zum Teil weißt du es ja schon. Du bist der Träumer! Und deshalb wird der Schatten dich auslöschen wollen, kann er sich deiner nicht bedienen. Ich gestehe, das ist weiterhin nur die Oberfläche."

"Was ist der Schemen? Der Schwarze Mann kann es ja nicht sein!"

"Nein, mein Freund, der Schwarze Mann ist der Wanderer schlechthin. Er ist nicht dein Feind sondern ein besonnener Helfer, wenn er auch bedrohliche Züge trägt. Aber er trägt eben auch deine Züge, spiegelt dein Inneres wieder, welches dir auch Bedrohung ist. - Er ist das ICH! - Du selbst, das sagte ich ja schon einmal, wirst zum Wanderer werden, zum Wegweiser für andere. Genauso, wie ich es jetzt für dich bin. Doch du willst wissen, wer oder was der Schemen, der Schatten ist. - Diese Erscheinung ist ein schadendes Wesen, eine Personifizierung schlechter Wünsche!

Schlecht deshalb, weil es allem und jedem zwingende Vorschriften machen will, welche angeblich zur Freiheit führen. Aber Freiheit ist durch Zwang - sprich Gefangenschaft - in keinem Falle erreichbar. Wenn Wege nicht dem Ziel entsprechen, führen sie zwangsläufig auch nicht dorthin. Weg und Ziel müssen übereinstimmen. Dieses Wesen verliert zunehmend seine Macht, weil ihm nicht mehr so viele Gedanken und Wünsche zufließen. Seine Nahrung! Es hat Angst um sich selbst, ist geboren aus Selbsterhaltungstrieben der Gedanken, welche es bilden, erhalten und nähren. Daraus erlangte es Bewusstsein, ballte zusammen, wurde Gestalt.

Es ist wahrhaft böse, weil es Zwang ausübte und ausüben will. Es ist böse, weil es nur herrschen möchte aber niemals wirklich dienen. Es ist böse, weil es alles auslöscht und vernichtet, was andere Gedanken denkt oder hervorbringt. Es ist böse, weil es selbst an das Böse glaubt. Nur wer an das Böse glaubt, gesteht ein, dass ihn das Böse mindestens berührt. Und dieses schwindende Schattenwesen ist vor allen Dingen deshalb selbst wahrhaft böse, weil es alles ihm nicht dienende als vollständig vernichtungswürdig ansieht. Es ist selbst unwahrhaftig und behauptet, es gäbe außer ihm nichts, wobei dieses sonst ungeheuerlich gewiefte Böse nur noch dumm und einfältig wird. Was dumm und einfältig wird, verhindert jedes geistige Fortschreiten, macht dumpf und roh.

Niemand kann dann mehr aus Tiefen rein stofflicher Anhaftung zur Höhe, zur Befreiung gelangen. Du weißt, Träumer, dass reine Stofflichkeit und vollkommenes Sein einander niemals ausschließen, sondern bedingen. Doch wenn Denkwege verboten sind, wird alles zur Stumpfheit. Diese Stumpfheit ist Nahrung des fressenden Schattens. Er will alles einhüllen, redet und säuselt von Liebe, meint aber nur jene Liebe, welche ihm angebracht scheint. - Pure Falschheit ist sein Wesen, trägt endlos viele Namen und hat keinen wahren, lediglich ein nichtssagendes Wort!"


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