Tanja Mößner rief übernächsten Tag unverhofft an, wollte ihre Sachen nach Hamburg nachgeschickt haben.
"Nicht mal in Berlin wollte man die", bemerkte Marga spitz. "Vielleicht jobbt sie jetzt als Klo- oder Klosterfrau auf der Reeperbahn oder hat 'nen Loddel. Entspräche deren Fähigkeiten. Dafür hätte sie besser in Berlin bleiben sollen. Die Reeperbahn ist immerhin Weltklasse. Bloß mit gewaltigem Gesäuge kommt sie da nicht weit. Gute Huren sind rar und schon fast Künstlerinnen. Auf jeden Fall Artistinnen."
Eckart packte das Paket. Marga sah derweil ihre Post durch, wirkte plötzlich seltsam abwesend. Einen Briefumschlag in Händen, wanderte sie versonnen durchs Haus.
Dann kam Annemarie Treuschs Anruf. Carl wurde am vorvergangenen Abend von einem Auto angefahren und liege ohne Bewusstsein auf der Intensivstation. Ansonsten fehle ihm körperlich ernsthaft nichts, außer zwei oder drei gebrochenen oder ziemlich angeknacksten Rippen. Schwere Gehirnerschütterung bewirke allerdings Bewusstseinstrübung und Erinnerungsverlust. Die Ärzte meinten jedoch, derlei wäre normal, nur wegen wiederkehrender Bewusstlosigkeit stehe Carl weiterhin unter strenger Beobachtung. Unmittelbare Lebensgefahr bestünde nicht, solange der ,Unglückliche' flach im Bett liegen bleibe, von Pflegekräften mit Schellen und Schläuchen verzurrt. "Wir haben das auch erst vorhin erfahren, weil ich nachforschen ließ, wo Herr Bramberg abbleibt. Schließlich sagte er nichts davon, dass er wegfahre oder so. Man will ja nicht rumschnüffeln. Aber am zweiten Tag macht man sich doch seine Gedanken, Herr Umgelter!"
"Da haben sie vollkommen recht, liebe Frau Treusch! Ich werde sofort losfahren und noch heute im Büro erscheinen."
"Unbedingt notwendig ist es nicht, Herr Umgelter. Ich konnte die meisten Termine verschieben oder anderweitig handhaben. Schauen sie getrost zuerst bei Herrn Bramberg im Krankenhaus vorbei. Wir wollen ja auch wissen, wie es um ihn wirklich steht."
Diese Frau ist eine wahrhafte Perle! Schmeißt sogar den ganzen Laden zeitweise allein. Bei nächster Gelegenheit sollte ihr unbedingt weitestgehende Vollmacht erteilt werden. Ihr Gehalt kann zwar nicht wesentlich höher ausfallen, schließlich sind wir kein reiches Großunternehmen, aber Prokura hebt gewaltig das Selbstwertgefühl. "Sie sind unbezahlbar großartig, Frau Treusch! Ich rufe sie später noch an. Und spätestens morgen sehen wir uns."
Annemarie Treusch beschrieb, in welchem Krankenhaus Carl Bramberg darbe. Eckart saß erst wie vor den Kopf geschlagen, stand dann entschlossen auf. - Ich muss sofort hinfahren und nach dem Rechten sehen. Außerdem braucht Carl mich, schließlich bin ich sein Freund! - Als er es Marga sagte, schaute sie ihn nur wortlos an. Seltsamer Augenausdruck, vollkommen abgemeldet.
"Hast du mir eben nicht richtig zugehört?" fragte er. "Carl ist verunglückt, liegt auf der Intensivstation. Jemand muss sich um ihn und unseren Laden kümmern!"
"Und was willst du da ausgerechnet heute schon?" Unverhohlener Ärger.
"Ich bin Carls Geschäftspartner. Wenn er ausfällt, muss ich seine Aufgaben übernehmen. Ich muss auf jeden Fall hin! Und ich will wissen, wie es ihm geht und ob ich ihm helfen kann. Carl ist mein bester Freund! Was ist denn mit dir auf einmal los?" Er begriff einfach nicht, was in sie gefahren.
"Wir beide lieben uns!" warf Marga merkwürdig aufgebracht in die Kampfrunde.
"Ja sicher! Aber was hat das damit zu tun?" entgegnete Eckart gereizt.
"Was willst du dort? Carl Bramberg ist bewusstlos, und wegen einiger Tage geht Eca-Media bestimmt nicht pleite."
"Was soll das, Marga? Was ist denn plötzlich in dich gefahren? So kenne ich dich gar nicht. Das ist doch Unfug!"
"Der liegt doch im Krankenhaus. Was willst du da machen oder helfen?"
"Was ich für ihn tun kann, vermag weder Arzt noch Krankenpflegekraft leisten: Freundesliebe! Wer seine Freunde nicht liebt, der hat keine."
"Ach, sieh an! Du liebst ihn!" sagte Marga plötzlich ätzend scharf mit bösem Unterton. "Du gehst mit mir ins Bett und hast dabei ein gottverdammt uneingestandenes und verlogen schwules Verhältnis..."
"Marga!" schrie er sie an, schnitt ihr mit wütender Handbewegung weitere Worte ab. "Sei bitte sofort still!" Wie Peitschenhieb klang es im Raum. "Bist du verrückt geworden? Hast du irgendwelche Drogen genommen?"
Marga wurde blass, irrwitziges Licht funkte in ihren Augen. Hassende Eifersucht loderte heraus. Stocksteif stand sie mitten im Raum, schien nicht richtig anwesend.
"Marga", sagte Eckart, wieder ruhiger geworden, "das kannst du eben alles nicht so gemeint haben. Sage mir so etwas nicht. Ich kenne dich als kluge Frau und sehr gescheite Freundin. Sage daher so etwas nicht, denn du solltest wissen, dass es gefühlloser Unsinn ist. Du würdest mich maßlos enttäuschen. Bitte tu mir das nicht an! - Du tust es dir selbst an!"
Margas Gesichtszüge verhärteten seltsam starr. Aufgeblitzter Hass schwand langsam aus ihrem Blick, machte völliger Geistesabwesenheit Platz. Sie sprach kein Wort mehr, hielt nach wie vor den Briefumschlag in Händen und ging einfach weg. Irgendwo im Haus verschwand sie. Eckart sah ihr verständnislos nach, schüttelte den Kopf, packte schleunig seine Sachen und fuhr los.
Eifrig verschlang eckige Kühlerhaube durchbrochene Striche des Mittelstreifens. Wie ein hungriges Tier, das lange Zeit seinen Magen nicht füllen konnte und nun nicht mit Fressen aufhören mochte. Traurig starrte er durch die Windschutzscheibe.