Übernächsten Tag brachte der Postbote einen dicken Umschlag von Eca-Media. Zwischen verschiedenen anderen Dingen und Zuschriften, von Annemarie Treusch umsichtig belangreich eingestuft, wiederum ein Brief von Unbekannt. Nach heiterem Mittagessen, gemeinsam unter viel Liebesgeturtel bereitet, verschwand Marga für gesamten Nachmittag ins Arbeitszimmer. Wahrscheinlich bis zum frühen Abend. Eckart mochte nicht schon wieder ins schwierige Gebiet der Runen abtauchen, vorhergehenden Lehrbrief noch nicht gänzlich verdaut.
Der große Rabe erschien, wartete geduldig, bis Eckart ihm zu fressen gab. Außer dumpfem Krächzen, womit entweder Behagen oder Dankbarkeit geäußert, kein Mucks. So blieb vorerst verborgen, ob dies schlaue Schwarzfedervieh tatsächlich sprechen konnte. Beharrlich schwieg der Vogel, dessen Gattungsgenossen in alter Zeit als Götterboten und Seelenträger Verstorbener galten. Hund und Rabe bewohnten mit Marga und Eckart kleine schneebedeckte Welt bis zu Grenzbäumen und Hecken. Keines von beiden Tieren wollte ins Haus. Sie ins Gemäuer locken misslang mehrmals. Der Rabe flatterte einfach davon. Verständlich! Vögel brauchen sicher Himmelsweiten über ihren Schwingen. Doch bei Hunden seltsam. Er knurrte sogar, sträubte sein schwarzes Fell, als wittere er unbekannte Gefahr, floh regelrecht.
Angst vor dem Hausinneren? Nicht geheuer? Warum? Spürte der Hund irgendwelche grausigen Geschehnisse aus alten Zeiten? Hielt daraus folgende Ausstrahlung ab?
Eingepackt gegen beißende Fahrtwindkälte brach Eckart am frühen Nachmittag allein zu einer Schiwanderung auf. Leichtes Bedauern, denn gern wollte er Bewunderung herber Schönheit frostklirrenden Tages mit Marga teilen. Zug um Zug schob er Schier kräftig vorwärts, stieß mit Stöcken ab, überwand sanfte Hügel, deren Rückseiten kleine Talfahrten gern erbrachte Mühe belohnten. Gedankenverloren beständig weiter vom Anwesen fort, schließlich allem Blick vollkommen entzogen.
Seit Stunden unterwegs und in weitem Bogen allmählich zurück. Verborgen kreuzten schneeverwehte Wege. Kahle aber dichte Buschzeile lenkte seine Richtung nach links. Einige Büsche gemahnten eher an Bäume, ragten sicherlich über fünf Meter hoch. Tiefgefrorene Insel inmitten flacher Landschaft. Anklage eiskalten Todes in Winterzeiten. Unerwartet trat ein großer Mann aus Buschdeckung genau in den Fahrtweg. Eckart drehte geistesgegenwärtig bei, vermied heftigen Zusammenprall. - Was macht der denn? Hat der keine Augen im Kopf?
"Hej!" Kurzer Überraschungsruf. Er blickte den Fremden etwas ungehalten an, wollte nach kurz genicktem Gruß weiter. Aber dessen starrer Blick heftete fest. Eckart blieb stehen. - Will der was von mir?
Dunkle Augen glühten unter buschigen Brauen. Wulstige Lippen betonten leicht unförmige Gesichtszüge. Frostiger Wind zauste an großer unansehnlicher Pelzkappe. Sie lagerte wie mottiger Schwimmreif um kantigen Kopf.
Könnte das der ,Schwarze Mann' sein? Hatte er hier aufgelauert? Dessen Körpergröße reicht durchaus hin, mit diesem aufragenden Fellungetüm obendrauf. Kam es hier zur ersten, vielleicht letzten Begegnung Auge in Auge, ganz allein mit ihm? - Was immer er will, es sind keine Zeugen zugegen. Auf mich allein gestellt. Aber ich habe Waffen: Schistöcke mit eisernen Spitzen!
Eckart ballte Fäuste enger. Rasch vergewissernder Blick, ob Schlaufen übergestreift, wild entschlossen, diese Bewaffnung einzusetzen, sollte jener eigentümliche Mensch bedrohlich nahe kommen oder verdächtige Gebärde machen. Doch der stierte ihn nur unverwandt durchdringend an.
"Sie sind bei Marga Sutthoff zu Besuch, in dem alten Landhaus da drüben", sagte der Fremde überraschend. Er stellte fest, fragte nicht, schien völlig sicher, wies mit verächtlicher Kopfbewegung in vermutliche Richtung.
"Ja", antwortete Eckart angriffslustig. Nicht mal grüßen mochte dieser ungehobelte Patron! "Und was hat das mit ihnen zu tun, werter Herr?"
"Mein Name ist Tobias Paulin. Ich bin Leiter der hiesigen Schule."
"Sehr schön! Und?"
"Sind sie Eckart Umgelter, der derzeitige Freund Marga Sutthoffs?"
"Missfällt ihnen das, werter Herr Paulin?" - Woher weiß der Knilch das?
"Nein. Das ist ganz allein ihre Angelegenheit. Ich bin ein Mensch, der geradeheraus seine Meinung sagt. Diese Frau ist von fürchterlichem Wesen!"
"Wie bitte? Würden sie mir das bitte erläutern?" verlangte Eckart ungnädig.
"Dafür habe ich meine Gründe. Diese Person hat einen schlechten Charakter und ungeheuerliche Angewohnheiten. Sie ist kein guter Mensch."
"Wie kommen sie zu dieser Ansicht? Das ist doch eine reichlich ungeheure Behauptung!" Eckart verschärfte seinen Tonfall, wurde langsam wütend..
"Ich will sie nicht beleidigen, junger Mann. Aber die ist entweder irre oder einfach schlecht und böse. Keineswegs nur eine bloße Behauptung! Sehen sie sich bei dieser Frau vor. Es ist nicht gerade ungefährlich, mit Marga Sutthoff in einem Mauerwerk zu hausen."
"Herr Paulin, sie reden dummes Zeug!" fuhr Eckart ihn an.
"Sie meinen also, Marga Sutthoff sei vollkommen normal?"
"Menschen dieses Formates sind nie normal im üblichen Sinne, weil sie etwas Besonderes sind. Sie sind nicht in kleingeistige Schablonen pressbar. Kein Künstler der wirklich etwas taugt ist das. Falls doch, sind diese Leute nur unsägliche Langweiler. Die Ergebnisse kann man in entsprechenden Fernseh- und Rundfunkprogrammen sehen und hören oder in wichtigtuerischen aber nichtssagenden Wortansammlungen lesen. Glauben sie, es sei nur das normal, was Hinz und Kunz und Oberlehrer als normal ansehen? Sicher, wenn man alltägliche oder beamtete Dumpfheit als Normalität betrachtet..." Eckart wandte verächtlich ab, wollte seine Schiwanderung beenden und zum Landhaus zurück.