"Da hast du gar nicht mal unrecht, mein Lieber. Als gelernter Psychoonkel habe ich dauernd mit solchen Leuten zu tun. Ich kann mich auch noch sehr gut an die unselige Sitte in Wohngemeinschaften erinnern, welche in den Siebzigern schreckliche Runden machte. Da saß dann die ganze WG-Belegschaft versammelt um den Küchentisch und psychologisierte was das Zeug hielt. Wer vorher keine Probleme hatte, bekam sie spätestens dann. Da saß immer irgendeine Tante oder so ein unerträglicher Softie herum, gestählt und verschlagen von Selbsterfahrungsgruppen in Wochenendkursen und ähnlichem Klimbim, die sehr schnell irgendein albernes Vorkommnis - am besten aus der Kindheit des Opfers - zum riesengroßen Komplex aufbliesen. Aber es wäre ein sehr fataler Fehler, die ungeheuer große Macht des Unterbewusstseins wiederum zu unterschätzen", betonte Hagen Wiechert. "Diese Macht vermag viel mehr, als wir uns eingestehen wollen. Man nehme nur das Beispiel der psychosomatischen Krankheiten. Obgleich keine körperliche Krankheit wirklich vorliegt, kann 'eingebildete' Krankheit letztlich körperlich werden. Und sie kann sogar tödliche Auswirkungen haben, ohne wirklich körperlich zu sein."
"Klar doch", meinte Eberhardt Kanngießer. "Ich bin nicht so gefühllos, wie das jetzt womöglich rübergekommen war. Ich glaube schon, dass ich unterscheiden könnte, ob jemand auf diese Tour reitet oder ob echtes Leiden vorliegt. Jedenfalls in den meisten Fällen, die mir vorgekommen sind, wurde ich das dumme Gefühl nicht los, sprichwörtlich verarscht zu werden. All diejenigen, welche so fleißig in ihre Gruppentherapie rannten, taten das in Wirklichkeit aus reiner Langeweile und schwafelten alle anderen mit diesem Gesülze dann voll. Einfach grauenhaft!"
"Da ist wirklich viel dran, lieber Eberhardt. Doch wenn man darin unerfahren ist, sollte das entsprechende Urteil nur sehr vorsichtig gefällt werden. Und die Macht des Unterbewusstseins ist wirklich riesenhaft. Praktisch alles was wir denken und tun ist davon weitgehend mitbestimmt. Und man denke hierbei nur an Wuduzauber, der es fertig bringt, lebende Tote zu erzeugen. Den Zombie! Hauptsächlich mit Hilfe der Beherrschung des Unterbewusstseins. Also der Seele! Oder beispielsweise die Urbilder, die wir alle in uns gespeichert haben. Sie können von Volk zu Volk und sogar von Landschaft zu Landschaft wechseln. Das Unterbewusstsein ist über diese Urbilder direkt ansprechbar. Bei Verwendung eines unzutreffenden Urbildes geht es allerdings nicht. Wuduzauber, sofern nicht drogengestützt, wirkt auf Abendländer oder Ostasiaten überhaupt nicht. Die einzige Wirkung ist lediglich unbestimmte Angst vor dem Unbekannten..."
Zombie! - Eckart konnte nicht erklären, warum Hagen Wiecherts Äußerungen tiefes Unbehagen weckten. Sie erinnerten an einen Traum, vor seiner Ehe mit Nathalie mehrfach gehabt, worin er über weite und tief verschneite Landschaft mit wenigen kahlen Bäumen wanderte, nicht wusste, wohin und woher. Schließlich im wolkenverhangenen abendlichen Zwielicht an Erdaushub gelangt. Nichts anderes als frisches Grab. Er stieg hinab, wollte gegen beißende Kälte anbrechender Winternacht Schutz finden. Ausgehobene Erde stürzte herunter, schloss bleiern ein. Er kämpfte vergeblich, erstickte in eiseskalten, feucht krümeligen Schollen. Schließlich deckte Neuschnee. Jahreszeiten kamen und gingen, Menschen wanderten vorbei und keiner hörte seine Rufe. Bewegungslos mit umgebender Erde verschmolzen. Wurzeln durchdrangen. Schließlich aufgelöst, verweht von Stürmen weiterer Winter, zerronnen in Wassern peitschender Regengüsse. Fortgespült in dunkle Tiefen endlosen Bodens. - Irgendwann blieb vielfach nächtliche Beklemmung aus. Doch in Eckarts Erinnerung saßen jene dunklen Bilder unauslöschlich. Nie redete er darüber.
Und nun weckten ausgerechnet Hagens sachliche Feststellungen über Urbilder und Zombies glücklich vergessenes erneut. Eckart hoffte keine Wiederholung klammer Traumgefangenschaft. - Ob Hagen Wiechert sagen konnte, was Anlass für solches Alpdrücken? Bestimmt! Schließlich fällt Traumdeutung in dessen Gebiet. Gäbe er Hagen Gelegenheit, seelische Abgründe ausweiden, fände dieser sicherlich etliche Anstöße. Aber dazu verspürte Eckart jetzt keinerlei Lust.
Hagen Wiechert brachte ihm ein Getränk, bewies als Barmixer ungeahntes Können. "Gestattest du mir, dir eine unverblümte Frage zu stellen, Eckart?"
"Was bezweckst du denn mit diesem verbalen Anschleichen?"
"Stelle doch bitte keine Gegenfrage, statt einer einfachen Antwort."
"Mache ich das?"
"Jetzt gerade wieder", entgegnete Hagen lächelnd.
"Hier ist aber keine Couch, lieber Hagen."
Hagen Wiechert lachte. "Für eine Analyse muss man nicht unbedingt eine solche Liegestatt haben. Fürchtest du dich davor? Meinst du, es könnte etwas ans Tageslicht befördert werden, das du lieber in verschlungenen Pfaden deiner Seele wissen möchtest?"
"Durchaus möglich, Hagen. Du kennst ja den albernen Spruch, den man über Psychiater macht: Psychiater unterscheiden sich von ihren Patienten nur durch den Schreibblock, oder wenn sie in einer Klinik tätig sind, nur durch den Schlüsselbund!"
"Das mag in etlichen Fällen zutreffen", meinte Hagen Wiechert ernst. "Aber die Zeiten, als man Psychoanalyse und neuere Psychiatrie belächelte, sind schon sehr lange vorbei."
"Das ist auch gut so", bestätigte Eckart. "Etwas, womit ungeheuerlicher Schaden angerichtet werden kann, entbehrt jeglicher Lächerlichkeit. Darf ich an solche Unsäglichkeiten wie 'Lobotomie' erinnern? Was ist daran seriös oder lächerlich, wenn ein Psychiater oder Neurologe seinen Patienten mit einer Art Eispickel buchstäblich blind im Gehirn herumstochert, in der Hoffnung, damit zufällig jene Region auszuschalten, die Anfälle geistiger Umnachtung oder Tobsucht verursacht?"