Eckart erinnerte dumpf solche Zeichen. - Gaunerzinken? Nein, die werden niemandem zugeschickt, sondern an Haustüren oder in deren Nähe angebracht, nur für ,Zunftgenossen' bestimmt. - Steinmetzmarken! fiel ihm überraschend ein. Aber das waren eigentlich persönliche Marken mittelalterlicher Bauleute, womit sie ihre kunstvollen Arbeiten an Kathedralen oder anderen Bauten kennzeichneten. Sind nicht Freimaurer esoterisch intellektuelle Fortsetzung jahrhundertealter Zünfte, Geheimgesellschaften? Wollte ihn eine Freimaurerloge werben?
Unwahrscheinlich! Sicherlich reichlich spinnerte Zeitgenossen, aber leidlich achtbar. Die verschicken keinen namenlosen Brief, hatten sie in heutiger Zeit gar nicht nötig. Vermutlich würde mündlich Verbindung aufgenommen, hergestellt durch ein Mitglied dieser ,Ehrenwerten Gesellschaft' betuchter Herren und weniger Damen. Mit italienischen Mörder- und Verbrecherbanden, ebenfalls ,ehrenwerte Gesellschaft' geschimpft, besser bekannt als ,Mafia', haben Freimaurer hierzulande keinerlei Drähte. Aus dieser Richtung kam das ganz sicher nicht.
Dummer Scherz? - Für dummen Scherz zu aufwendig. Da musste anderes hinter stecken.
Magie! Hexerei! drang flammend ins Bewusstsein. Und dann Erinnerung, woher er solche Zeichen kannte: Runen! - Uralte Zauberzeichen, zu sogenannten ,Binderunen' gefügt. Vielfach verschlungener Zauber. Mittelalterliche Steinmetzzeichen führten diese magische Kunst fort, sollten ebenso überirdische Bindung erreichen. Und im Brief vor etlichen Tagen stand gleichfalls etwas von Runen.
Wo habe ich den hingetan? - In die Jackeninnentasche! Er dachte gar nicht mehr daran, vergaß ihn, als er seine Jacke wechselte. Müsste also Zuhause irgendwo papiergeduldig warten.
Sein Nachbar, Dr. Hagen Wiechert, Irrenarzt und Esoteriker, hielt ihm einmal einen ausführlichen Vortrag darüber, zeigte Bücher, worin derartige ,Künste' gelehrt und dargestellt. Eckart sah in dessen Ausführungen vornehmlich ansprechend ausgefallene Unterhaltung, vertiefte nichts davon. Kein sonderlich aufregendes Wissensgebiet. Magie, Zauberei, Hexenkunst? Blödsinn! Es gab wichtigere Angelegenheiten. Nun auch erinnert, Hagen Wiechert berichtete einmal ausgiebig über Magie der Gerüche, Töne und Farben. - Fressender Geruch aus dem Umschlag und bedrohliche Blutfarbe!
Sollte Hagen Wiechert dahinterstecken? - Ach Quatsch! Teilweise spinnert, aber dröhnend seriös! So seriös, dass es nur fürchterlich langweilt. Schrecklichstes, was daraus entwachsen mochte. Eckart glaubte nicht an solchen Hokuspokus. Obwohl, zumindest eingestanden, dieser ,Zauberbrief' rief unstreitig gewisse Auswirkung hervor. - Und sonstige? - Nein, nein!
Andererseits konnte man nie vollkommen sicher sein. Irrenärzte sind häufig überaus eigentümlicher Schlag. Hagen Wiechert schien aber recht ,normaler' Zeitgenosse. Fröhlicher Mensch von gerade wenig mehr als vierzig Jahren. Gekonnt riss er über dumme Angewohnheiten seiner Irrenarztkollegen Witze. Besonders, wenn sie mit albern dümmlichen Sigmund-Freud-Spitzbärten versehen. Hagen Wiechert fand das abgrundlächerlich und meinte, wer so durch Weltgeschichte trabe, biete wohl nicht viel Geist. Er lachte lauthals darüber, nannte solche Kollegen ,akademische Schamanen', womit er zweifelsfrei richtig lag. Er räumte allerdings auch ein, sein Berufszweig stünde in Nachfolge zur alten Magie, stelle keine gänzlich genaue Wissenschaft dar, wie beispielsweise Anatomie oder Chemie, deshalb gehe er mit dem Wissensgebiet magische Praxis pfleglich um.
Doch das hier? Wer verschickt so ein Zeug? - In Eckart wühlte Ärger. Blitzartiger Gedanke: Der ,Schwarze Mann'! Das würde zusammenpassen! Der tauchte doch auch immer unvermittelt auf und verschwand, bevor man ihn richtig in Augenschein nehmen konnte. Ist da jemand als ,großer Houdini der Garagen' am Gange, will sein Mütchen kühlen? Aber wozu? Doch bei derartigen Verrückten wird Frage nach wozu und warum meist gegenstandslos. Und solange dieser Kerl nur irgendwo düster herumstand oder Zauberzettel verschickte...
Zum ganzen Ärger mit Nathalie in vergangener Zeit auch noch das! - Eckart wurde wütend, zerriss Briefkarte samt Umschlag, schmiss die Schnipsel in den großen marmornen Aschenbecher auf seinem Schreibtisch und zündete alles an. Erst jetzt gewahr, die Briefkarte bestand aus mehreren anbackenden Papierlagen.
Hab ich da was übersehen? - Ach, ist völlig egal. Dieses stinkige Zeug!
Anschließend breites Fenster sperrangelweit auf und frische unverbrauchte Luft von draußen eingeatmet. Gelblich rußiger Brand breitete erneut betäubenden Dunst neblig ins Bewusstsein. Schließlich verfärbte helles Papier bräunlich dunkel, verglühte schwarz. Nachdem Hitze und Glut erloschen, leerte er die Asche in nebenstehenden Papierkorb. Der widerwärtige Geruch verflog langsam. Dennoch blieb tiefsitzendes Unwohlsein zurück, wich nicht wirklich. An Fingern schienen pudrige Reste des Briefinletts verblieben. Es roch stark, konnte nicht einfach abgewischt werden.
Was ist denn das für ein Zeug? Talkumpuder im Brief? So eklig klebrig? - Ist ja widerlich! Hände waschen, aber schnell!
Carl kam wenig später überraschend herein, schnüffelte verwundert, saß anschließend zufrieden lächelnd im Besuchersessel. "Na, wie findest du sie?"
"Wen? Senta Kallweit?"
"Ja, sicher! Wen denn sonst?"
"Attraktiv ist sie zweifellos, und ihre gesellschaftliche Stellung, mitsamt gut gepolstertem Hintergrund, überaus faszinierend", bestätigte Eckart sachlich.
"Letzteres spielt für mich derzeit ziemlich untergeordnete Rolle", behauptete Carl ernsthaft.
"Tatsächlich?"
"Ich glaube, ich finde nicht die richtigen Worte, mit denen ich dir erklären könnte, warum ich Senta noch keinen kniefälligen Heiratsantrag machte", seufzte Carl.
"Möglich", kam Eckarts kurze Beipflichtung, immer noch leicht benommen und nicht ganz vorhanden.
"Und so schnell geht es bei unseren Standesämtern auch nicht..." Neuerlich seufzte Carl.
"Wie wär's mit Gretna Green?"