"Das scheint auf deine Körperströme abgestimmt", staunte Hagen Wiechert. "Selbst wenn das nur sehr ausgefallenes Spielzeug sein sollte, ist es trotzdem ein kleines und äußerst ungewöhnliches technisches Kunstwerk."
"Soll ich mal versuchen?" schlug Eleonore Pfeifer vor, näherte fast ängstlich dem kleinen Ding. Eckart nickte. - Funkende Watsche! Mit lautem Schrei fuhr Eleonore zurück. "Mich kann's auch nicht leiden!"
Eckart steckte den Kreisel wieder in seine Jackentasche. "Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie glaube ich, dass das keineswegs bloß ein außergewöhnliches Spielzeug ist."
"Da dürftest du recht haben", bestätigte Hagen. "Wenn dieser karibische Knilch und die Kallweit so nachdrücklich danach forschten, könnte viel mehr dahinterstecken. Die wissen auf jeden Fall etwas, das uns unbekannt ist. Leider können wir diese seltsame Gesellschaft nicht ausfragen. Hast du übrigens das Amulett dabei?"
"Ja, ich wollte ja ohnehin mit dir darüber sprechen", antwortete Eckart, holte das Plastikpäckchen hervor.
Nachdem Hagen es öffnete, zuckte er sofort zurück, als ihm brandender Geruch in die Nase stach. Vorsichtig nahm er das Kettchen zwischen Fingerspitzen, betrachtete filigranen Anhänger aufmerksam, hielt gegen helles Lampenlicht, ließ alles wieder in Plastiktüten gleiten, nickte bedächtig.
Eckart verfolgte gespannt Hagen Wiecherts Begutachtung. "Nun, was sagst du dazu?"
"Mindestens in dieser Beziehung, brauchst du dir um deine geistige Gesundheit keinerlei Sorgen machen", meinte Hagen ernst. "Das ist wirklich ein Zaubergegenstand. In der Normandie und der Bretagne, werden solche kunstreichen Kleinodien noch hergestellt, nach uralten germanisch-keltischen Vorbildern. Allerdings hauptsächlich dazu, um diese wahrhaften kleinen Kunstwerke an Touristen zu verkaufen. Dieses filigrane Behältnis ist eine stilisierte Drachenfigur. Ein dunkler Unterweltgeist also. Im Abendland galten Drachen von je her vornehmlich als unerfreuliche Wesen, ganz im Gegensatz zu Ostasien, wo der Drache hauptsächlich ein Glücksbringer ist.
Und Beeinflussungsdrogen, die den betreffenden Menschen Erinnerungen rauben, fast antriebslos machen können, gibt es. Dafür braucht es nicht mal des Wudu und der Karibik. Es sind ätherische Extrakte aus verschiedenen Nachtschattengewächsen, dem schonend getrockneten Hexenpilz eingetränkt und von diesem nach und nach freigesetzt. Körperwärme und Schweiß bewirken ein übriges. Diesen Pilz gibt es und er heißt wirklich so, wächst überall in unseren Wäldern, wie auch die entsprechenden Nachtschattengewächse, deren ätherisch Öle die Hauptwirkung vollbringen. Aber ich will damit nicht sagen, dass es sich nicht um eine tropische Drogenmischung handeln könnte.
Schade, dass du den Hexenbrief einfach verbrannt hast. Gerade damit ist so eine Einflussnahme möglich. Die Wirkstoffe werden ins Papier getränkt und auch gleichzeitig der Rötungsfarbe eingemischt, womit die Runen aufgemalt. Runenzauber ist Rötungszauber, das heißt, Blutzauber. Runen zu Zauberzwecken sind immer rot oder werden gleich mit drogenvermengtem Menschenblut aufgebracht. Mit den Runen und dem Drachen wird das Urbild der Indogermanen angesprochen und mit der Drogengabe abgerundet. Wirkt das Urbild zu schwach, was in der Neuzeit hinsichtlich Runen und Drachen durchaus sein kann - allerdings erbringen sie immer gewisse Wirkung - dann aber ganz sicher die Drogenmischung.
Nein, mein Lieber, das ist wirklich keine Einbildung, sondern sogar eine ganz ausgefuchste Vorgehensweise. Diese Pseudo-Kallweit! - Falls das so stimmt, was aber gut sein kann, dass ihre Persönlichkeit schlicht von jemandem gebraucht oder täuschend nachgeahmt wurde. Unfasslich! Was für ein raffiniertes Luder, mitsamt der üblen Meute, die das vielleicht für sie oder mit ihr ausheckten. Überlässt du mir das Amulett? Ich möchte den Dracheninhalt von einem befreundeten Chemiker analysieren lassen."
Eckart nickte zustimmend. Ihm wurde zumindest teilweise schon wesentlich leichter ums Herz. "Aber das mit dem Schwarzen Mann, das ist doch verrückt."
"Nicht unbedingt, mein Lieber", beruhigte Hagen neuerlich. "Der Schwarze Mann ist, wie die Weiße Frau, eines der ältesten und wirkungsvollsten Urbilder abendländischer Völker. Beide Urbilder sind gleichermaßen bei Menschen germanischer, slawischer, keltischer, romanischer und griechischer Herkunft zu finden. Sogar unabhängig von kultureller Prägung. Eine größere Gruppe dieser Abstammung, in anderem Kulturzusammenhang aufgewachsen, spricht ebenfalls auf diese Urbilder an. Wenn auch vermindert. Doch es lässt sich zielgenau wecken und als Zugang verwenden. Japaner, Indianer, Semiten oder Suaheli und so weiter lassen sich damit nicht beeindrucken. Die haben andere Vorprägungen ihrer Gruppenseele, von denen wir wiederum nicht beeinflussbar wären. Der 'Große Manitu' beispielsweise, würde unsereinem nie begegnen. Das ist vollkommen ausgeschlossen. Selbst wenn man ihn so nennte, trüge er entweder unverkennbar die Züge und Eigenschaften des Schwarzen Mannes, oder - in weiblicher Ausprägung - die der Weißen Frau. Der große Psychoanalytiker C. G. Jung hat sich ausführlich darüber ausgelassen."
"Und was ist in Bezug auf mich daraus zu schließen?" begehrte Eckart Aufklärung.
"Dass du ein überaus empfindsames Menschenwesen bist."
"Aber der Schwarze Mann ist doch ein dummes Kinderschreckbild. Ein albernes Ammenmärchen."