Sein kleines Unternehmen stellte ihm Lebensinhalt dar, seines und Carls gemeinsames Werk. Wie kam sie nur auf den Gedanken, er würde einfach alles beiseite lassen? In so einem Fall? Wie konnte Marga innerhalb so kurzer Zeit innerlich dermaßen umschlagen? Sie zeigte Verhaltensweisen, bei ihr niemals vermutet. Selbst wenn er und Carl miteinander... Ist aber nicht, verdammt noch mal! Aber selbst wenn, dann erwartete er nicht so etwas. Das passte einfach nicht zu ihr! - Schwachsinn! - Manchmal versteht man Frauen wirklich nicht, trotz aller Bemühung. Sitzt sie jetzt vielleicht tieftraurig im Arbeitszimmer vor leuchtender Monitormattscheibe des Rechners und weiß vor Bedrückung nicht, was sie als nächsten Dialog erdachter Personen schreiben soll? - Hoffentlich nicht!
Dann kam wieder ihr seltsamer Zustand ins Gedächtnis. Eckart erinnerte plötzlich Einzelheiten, vorher für unwichtig erachtet. - Sie lief mit einem Briefumschlag aus heutiger Post völlig abwesend durchs Haus, hielt ihn bis zuletzt in Händen, verschwand damit.
Brief? Ich bekam doch auch einen, der mich fast wie ein Schlag traf! Ob Marga heute ebenfalls...?
Er verscheuchte bohrende Gedanken, musste auf seine Fahrstrecke achten. Großstädtisch steinerne Ausläufer rückten bereits näher. Autobahnraststätte! Eckart blinkte rasch und bog ab. Auf dem Parkplatz griff er unruhig sein Handy, wählte eilig Margas Hausanschluss. - Nur Anrufbeantworter! Ihre Funknetznummer sprach gleichfalls nicht an. Offensichtlich ausgeschaltet. Jedenfalls behauptete es die Ansage der Telefongesellschaft.
Vielleicht arbeitet sie wieder und will nicht? Ich versuche es später noch mal!
Endlich fuhr er in weite Ausfallstraßen der Großstadt, erreichte das Krankenhaus, welches Annemarie Treusch nannte. Grau, eintönig und bedrohlich klotzte riesiges Gebäude der Universitätsklinik zwischen viel zu kleinen Bäumen. Breit ausladende Eingangsfront gähnte wie gefräßiges Ungeheuer, das ankommende Menschen, Besucher und alle hier arbeitenden in seinen gierigen Bauch stopfen, nie wieder herauslassen, verdauen wollte. Der reinste Krankenbahnhof, schauderte Eckart. Auch umherhastende Menschen vermittelten Eindruck, als wollten oder müssten sie unbedingt bestimmte Abfahrtszeiten einhalten. Allerdings haben richtige Bahnhöfe trotz aller Tristheit immer etwas Hoffnungsvolles. Hier herrschte keinerlei Reiselust, geschweige denn überhaupt Lust, sondern Krankheit, Schmerz, Leiden und Tod. - Alles aussteigen, der Zug endet hier!
Die diensthabende Schwester der Intensivstation erklärte, Carl Bramberg sei durchaus schon ansprechbar, dürfe aber auf keinen Fall sitzen oder gar das Bett verlassen und stehen. Allerdings müsse er noch gut und gern zwei Wochen im Krankenhaus bleiben. "Und wundern sie sich nicht, wenn er sie nicht gleich oder gar nicht erkennt. Das ist bei Patienten mit schwerer Gehirnerschütterung ganz normal. Die wissen anfänglich oft noch nicht einmal mehr ihren eigenen Namen."
Carl sah wirklich übel aus. Doch schien alles nicht so entsetzlich, wie erst befürchtet. Er berichtete in müden Worten, seine Romanze mit Senta Kallweit sei urplötzlich vorbei gewesen. Niedergeschmettert, daher nicht aufmerksam, verließ er deren Haus zur Straße. Glücklicherweise nicht sehr schnell fahrender Wagen erfasste und schleuderte ihn gegen abgestellte Autos. Jedenfalls meinte das die Polizei. Er selbst erinnere nur das Treffen mit Senta als letztes. Danach bloß Schwärze, bis vor ein paar Stunden. Kummer über verlorene Liebe nage gewaltig.
Kraftlos schüttelte er den Kopf, blickte zur Seite. "Ich weiß gar nicht, was wirklich los ist, Eckart. Ich bin völlig von der Rolle. Ich traf da auf eine Frau, die zwar genauso aussah wie diejenige Senta Kallweit, die ich kannte. Aber es war nicht dieselbe. Und sie schwor Stein und Bein, dass sie mich nicht persönlich kenne und gerade erst nach wochenlangem Aufenthalt aus der Karibik zurückgekommen sei. Wie sie das sagte, klang es durchaus überzeugend. Nur, ich wollte und konnte es ihr einfach nicht abnehmen. Warum wollte sie mich loswerden? Sie ließ sich jedoch nicht von ihren Aussagen abbringen und mich von Hausangestellten hinauskomplimentieren. Ich verstehe es einfach nicht. Und ich verstehe mich selbst nicht, habe das Gefühlt, als lebte ich seit Wochen im falschen Film. Zu manchen Zeiten fehlt mir sogar jede Erinnerung. Teilweise machte ich offenbar Dinge, von denen ich gar nichts weiß. Die Ärzte meinen, das liege womöglich an der Gehirnerschütterung. Aber ich weiß nicht... Es ist jetzt alles irgendwie anders. Mir tut mein Kopf weh, und den muss ich mir ordentlich angeklopft haben, aber andererseits scheint alles auf ganz komische Weise klarer, trotz Filmriss. Es ist so, als sei eine riesige und schwere Blockade entfernt. - Ich will jetzt nur noch gesund werden und so schnell wie möglich wieder hier raus, mit dir zusammen arbeiten, mich mit dir besaufen oder so, einen draufmachen, wieder einmal so einen verzauberten Abend erleben, wie den, als wir das erste Mal mit Marga zusammen waren und danach in deinem Haus miteinander träumten, die Zeit vergaßen, nur uns selbst genug waren."
"Ja, an diesen Abend habe ich auch einige Male gedacht. Das war wirklich eine Zeit ohne Zeit, wirklich verzauberte Stunden", meinte Eckart versonnen. "Keine Sorge, mein Lieber, wir werden dich schon wieder hinkriegen." - Merkwürdig, was der da gerade erzählte. Mir kam Carl auch manchmal so vor, als sei er gar nicht richtig bei Verstand. Allein diese aufgedonnerte Kallweit so plötzlich! Obendrein redete der sogar von raschest möglicher Heirat. Das passte überhaupt nicht zu Carl. Und dann sollte auch gleich ein Firmenzusammenschluss stattfinden. Wer da das Sagen gehabt hätte...? Wir beide bestimmt nicht!
"Du wirst mir sicher einen kleinen Gefallen tun", bat Carl.
"Natürlich! Was denn?"
"Da in der Schublade des Beistelltischs liegt bestimmt meine Brieftasche. Ich komme da nicht selber dran, wegen der dämlichen Kabel Außerdem darf ich sowieso nicht hoch und muss flach liegen bleiben. Da drin findest du meine Bankkarte. Jedenfalls müsste sie drin sein. Ich brauche etwas Bargeld. Holst du mir bitte den Höchstbetrag vom Geldautomaten? Sind ja eh nur fünfhundert Eier. Ich sage dir meine Geheimnummer. Die kann ich dann später ja irgendwann mal ändern. Mache ich so oder so immer mal."
"Klar doch, mache ich gern. Aber ich kann dir durchaus zweihundert so geben. Die habe ich gerade einstecken", schlug Eckart vor.
"Nein du, danke, das ist lieb. Aber ich brauche fünfhundert. Ich bin es einfach gewohnt, soviel in der Tasche zu haben."