Ich bin Wanderer in allen Welten
mir sind verborgenste Pfade klar
ich achte an allen Wegen auf jeden
wohin Du Dich wendest, erwarte ich Dich
Was stöhnst Du unter Schicksalsstichen?
Meine Geschenke sind nicht, was sie Dir scheinen
doch stets das Gleiche - ganz gewiss!
Mit haschenden Händen hoffst Du zu halten
Dein Versuch ist vergeblich
mein Wesen ist Wandel
beim nächsten Hauch schon verhehle ich
Ich stürze Stolze von teuren Stühlen
raube Reichen gehäuftes Gold
Mühen von Mächtigen mach' ich zunichte
Zaudernde zwing' ich in andere Zeiten
Wissenden weise ich neue Wege
Klugen gebe ich Kraft und Verstand
Fragende führ ich in weiteste Fernen
Suchenden schenke ich andere Sicht
Hier ist Deine Hoffnung
hier ist Deine Hilfe:
Alles wird anders
nichts bleibt wie es ist!
Mein Name ist Odin, der Alte, der Eine
man nennt mich auch Wotan
den Herrn jeder Kunst
ich bin die Wirklichkeit, allem verwandt
ständige Gärung ist mein Geschäft
Der ,Dunkle' neigte leicht den Kopf mit breitkrempigem Hut, hob grüßend rechte Hand, wandte unhörbar um. Wenige lautlose Schritte später verschmolz dessen hohe Gestalt mit frostig verdorrtem Heckenlaub.
Eckart konnte wieder alles bewegen, sah hinterher. - Spurlos verschwunden! - Wahrer Alptraum, worin alles in gestreckter Zeit verlief, wo langsam und zäh bleiche Leuchtspuren fließende Umrisse verfolgen, alles überall scheint, doch tatsächlich nirgendwo?
Zweifelsohne ging der ,Schwarze Mann' fort. Entgegen jeder gehegten Befürchtung tat er ihm nichts, krümmte ihm kein Haar, nannte nur einen Namen: WOLFRAM! - Augenblicklichen Tod erwartet, oder doch zumindest Flucht des Verstandes in Wahnsinn, was Sterben gleichkäme. Nichts als ein Name blieb hinterlassen.
Wolfram, mein wahrer Name?
Kälte schüttelte. Zugleich spürte Eckart endlos erleichtert seine Schuhe aus klammerndem Untergrund scharfen Schnees gleiten. Knirschend knackendes Geräusch begleitete ersten unsicheren Schritt. Nochmals verhalten, schaute er zur Stelle, wo der Fremde ins Heckengeäst schmolz, schlicht entschwand. Fast bedauerter Weggang jener dunklen Gestalt, welche schier unendliche Tage lang nagende Ängste bereitete. Offenbar ganz andere Beweggründe! Missverständnis!
Fragen jagten: Wie hieß der? Odin oder Wotan konnte es doch wohl nicht sein, oder doch? Besaß der auch einen allgemeinen Namen? Wie lautete dessen wahrer Name? Und was bedeutete: Der wahre Name? Ist nicht gebräuchlicher Name zugleich der wahre? Und falls nicht, warum?
Unbeschreibliches Wirrsal! Von peinigenden Todesängsten blieb einzig schallendes Nichtbegreifen. - Und wenn ich mir alles nur eingebildet habe? Das gesamte Erlebnis ist doch vollkommen unwahrscheinlich, kann nach allen bekannten Verstandesregeln nur Ausgeburt kranken Gemüts sein. So etwas gibt es doch in Wirklichkeit gar nicht!
Erneut kroch krallende Angst, er verliere den Verstand. Womöglich kommt angekündigter Wandel erst später! zwängten drohende Gedanken fern aber deutlich ins Bewusstsein. - Später? Als Fortfall normalen Denkens, als fressendes Umsichgreifen irrwitziger Hirngespinste? Alle Vernunft verwehrt? Geisteskrankheit, Umnachtung?
Er zitterte nicht nur vor Kälte, schaute sehnsüchtig ins Nachbargrundstück.
Kein Licht brannte irgendwo in Hagen Wiecherts Haus. Vertrauensvolles Gespräch mit ihm wäre jetzt bestimmt am hilfreichsten. Hagen könnte fachlich beurteilen, ob wirklich geistiger Verfall gegeben, vielleicht sogar entgegensteuern. Wenigstens verständigen Zuhörer gebe er her. Allein das helfe über schlimmsten Zustand vorerst hinweg. Aber nichts! Mit niemandem könnte er sprechen.
Telefonseelsorge anrufen? - Quatsch! So ein Schwachsinn!
Notfalldienst nächster Irrenanstalt aufsuchen? - Völlig dummes Zeug! Heiße Dusche, Schlaftablette reinpfeifen und ab in die Falle!
Eckart schlief folgende Nacht glücklich traumlos. Trotz Bange wegen Verstandesschwund, herrschte ungewohnt innerer Frieden. Immerhin brauchte er den Fremden nicht derart fürchten wie bisher, selbst wenn dieser lediglich reine Einbildung. Oder lag es nur an Erschöpfung nach arbeitsreichem Tag, heißer Dusche und Drogenwirkung aus ,Pennpille'?