Der Beistelltisch besaß Rollen. Eckart zog ihn heran und die Schublade auf. Als er darüber beugte, schlug ihm durchdringender Hauch entgegen. - Das kenn' ich doch!
Bilder überschlugen im Kopf und Erkennen stürzte herein. - Der Brief! - Der Brief ohne Absender, den er in seinem Büro öffnete, wonach betäubender Geruch aufstieg, Hirn vernebelte, in unerklärlichen Dämmerzustand versetzte. Und dann noch diese blättrige Briefkarte mit blutrot gezackten Zeichen... drohend abgründig! Margas merkwürdiger Zustand heute Vormittag, was gleichfalls mit einem Brief zusammenhängen dürfte.
Himmel, was war das? Eckart wurde schwindlig. - Sein Schwindelanfall ging rasch vorbei, wohl eher von eindringlich flutender Erinnerung ausgelöst. Schnell verflog der Geruch auf Mindestmaß, ballte anscheinend nur im Innern geschlossener Schublade so stark.
Dennoch entging Carl Eckarts Unsicherheit nicht. "Was hast du? Ist dir schlecht?"
"Da kam so eine grässliche Wolke heraus, die mir fast den Atem raubte. Was hast du denn da drin?" Eckart verbarg mühsam seine Erregung.
"Ich habe da gar nichts reingetan", erklärte Carl, schnüffelte. "Jetzt rieche ich auch was. Wenn es das ist, was ich gerade rieche, dann muss es von diesem Amulett sein. Das hatte ich bestimmt um, als ich hier eingeliefert wurde, und die Schwestern haben es mitsamt der anderen persönlichen Sachen da reingelegt. Schau mal, ob du da so einen Halsanhänger siehst."
Eckart zog metallene Lade vollständig auf, blickte aufmerksam in unterteilten Blechschubkasten. Brieftasche, Schlüsselbund, Armbanduhr, silberner Kugelschreiber und kleine Taschendatenbank. - Ah, da! Zusammengekringelt lag goldfarbenes, fein gearbeitetes Gliederkettchen. Seltsamer Anhänger daran glich flachem Gitterwerk, ungefähre Größe kleinen Fingers, kunstvoll aus Golddrähten geflochten. Er nahm das Kettchen zwischen Daumen und Zeigefinger, betrachtete dessen Anhängsel.
Filigranes Körbchen aus Golddraht, sehr schön ausgearbeitet, enthielt irgendetwas. Vom Fenster einfallendes Licht blinkte durch verwirrende Lücken. Dem Behältnis entströmte eindeutig jener sinnesbetäubende Geruch. Kein Zweifel! Je kürzer der Abstand zum Anhänger, desto eindringlicher wirkte darin eingeschlossener Duftstoff, schlüpfte aus dem Geflecht in Atemluft, strömte über Nasenöffnungen sofort ins Gehirn, umschlang alle Windungen. Eckart hielt das seltsame Schmuckstück mit ausgestrecktem Arm von sich und Carl weg. "Ist dies das Amulett, das du meinst?"
Carl verfolgte aufmerksam gesamten Vorgang. "Ja, das ist es!"
"Wo hast du das her?" forschte Eckart eindringlich, versuchte gleichmütigen Tonfall, aufs Höchste beunruhigt. - Wurde auch Carl Opfer eines ,Stinkangriffs'?
"Das habe ich auf einer Hexenparty mal umgehängt bekommen."
"Hexenparty? Was für eine Hexenparty?"
"Senta - jedenfalls die, die ich kannte - gehörte mit anderen Leuten ihrer Schickeriakreise einem seltsamen Spinnerzirkel an. Sie fuhren regelmäßig in alle möglichen Weltgegenden, nahmen an Wuduveranstaltungen teil, machten spiritistische Sitzungen mit allem Pipapo und gemieteten Hexen und Hexern, trafen sich mit Verfechtern der Ideen von Aleister Crowley, und allem möglichen anderen Unsinn, angefangen bei Astrologie bis hin zu indischem Budenzauber á la Sai Baba oder wie dieser feiste Kerl heißt. Irgendein alberner Indianerhäuptling mischte auch noch kräftig mit. ,Schartiges Messer' oder so ähnlich klang der Name, kann auch 'Rostige Klinge' gewesen sein. Jedenfalls war es ein fürchterliches Durcheinander von allen möglichen und unmöglichen Praktiken und Machenschaften, womit sich diese gelangweilten reichen Knilche abgaben. Das waren jedes mal reichlich rauschende Partys, die dann geschmissen wurden. Ging hoch her! Am Anfang war das natürlich was ganz Neues für mich. Und weil die das alle ganz nobel und schick fanden, machte ich begeistert mit, obwohl ich den ganzen Quatsch natürlich nicht glaubte. War ohnehin nur Zeitvertreib für die Oberschickimickibagage. Von denen hat das bestimmt auch keiner richtig ernst genommen. - Glaube ich jedenfalls."
"Und seit wann hast du das Ding?" fragte Eckart innerlich gespannt, äußerlich um Ruhe bemüht.
"Das war gleich in den ersten drei Tagen, als Senta und ich uns kennen gelernt hatten."
"Und du hast es von Senta?"
"Sie hat es mir jedenfalls umgehängt, nachdem sie es aus der Hand eines Oberguru von Wuduknilch überreicht bekam, obwohl die Machart des ganzen Dingens altabendländisch sein soll. Irgendwas von bretonisch oder normannisch wurde mir gesagt. Das sei kein sonderlicher Unterschied, keltisch, germanisch, griechisch oder römisch, meinte eine ihrer 'zauberhaften' Freundinnen. Das Amulett sei von einer der neuen Feld-Wald-und-Wiesen-Hexen eigens besprochen worden und halte schlechte Einflüsse von mir ab."
Bedrückender Verdacht fraß heftig in Eckart. - Sollte DIESE Senta den Brief... und den Schwarzen Mann...? Nein, der Schwarze Mann tauchte vorher schon auf, obwohl das nicht unbedingt etwas heißen musste. Etwa gleichzeitig? Aber der Brief könnte von ihr stammen oder zumindest in ihrem Auftrag abgegangen sein. Aber Zauberei? Daran glaubten weder er, noch Carl. Und wenn sie wirklich nicht die echte Senta Kallweit war, wer dann?
Jetzt noch mehr verwirrt. Hagen Wiecherts Aussage über Urbilder kam wieder ins Gedächtnis. Die Zeichen auf der stark riechenden Karte waren Runen, Binderunen. Derlei könnte als wirksames Urbild durchaus herhalten, dazu Wirkung betäubenden Geruchs. Auch darüber sprach Hagen Wiechert und betonte, Gerüche wirken stark seelisch, hauptsächlich unterschwellig, unbemerkt und gerade deshalb sehr nachhaltig tiefgreifend. Doch andererseits, Carl erzählte eben, ein Wudumensch habe jenes geruchverströmende Ding übergeben. Gemäß Hagen Wiechert, dürfte Wudu bei Abendländern kaum Wirkung zeigen...