Eckarts Herz raste noch immer, von Flucht- und Lebenstrieb hochgejagt. Verstört nahm er alles wie durch dicke Glasscheibe wahr. Erst nach einigen tiefen Atemzügen ließ hämmerndes Pochen in seiner Brust nach. Über ihn gebeugt, ein durchaus herkömmlicher Mann. Schmal gemeißeltes Gesicht, hager geschnittene gute Züge, mochte jünger sein als Eckart, allenfalls Mitte zwanzig. Im Dunkeln nicht genau erkennbar. Trotz dicker Kleidung deutlich, dass er gut trainiert sein musste. Sportlich! Vormaliger Griff um Handgelenke bestätigte es. Er sah nicht entfernt zum Fürchten aus, grinste nun freundlich und mitfühlend.
"Glauben sie immer noch, ich sei ein böser Räuber?" Angenehm raue Stimme.
"Nein, sie sind nicht derjenige, der hier eben aufgetaucht war und diesen ganzen Schlamassel verursachte. Es tut mir leid, wenn ich sie eben getroffen habe. Aber ich dachte, jetzt kommt er von der anderen Seite und will mir ans Leder. Bitte entschuldigen sie!"
"Ist schon gut. Jetzt stehen sie erst mal aus diesem Matsch auf. Sie werden ja völlig durchgeweicht", begütigte der junge Wachmann.
"Ich glaube, ich habe mir ganz gewaltig das Fußgelenk verknackst. Ich wollte einen Ausfallschritt machen, bin auf eine Steinkante getreten, umgeknickt und hingefallen. Deshalb hatte ich geschrieen, weil das so weh tat. Und dann noch mal, als ich aufstehen wollte, es ebenfalls höllisch schmerzte und ich wieder hinflog. Hoffentlich ist es nur verknackst. Wäre ja übel, wenn da was gebrochen wäre."
Der junge Wachmann half ihm hoch, stützte nachhaltig, hob zugleich schneebeklebten Aktenkoffer auf. Wirklich sehr kräftiger Bursche. Eckart stand auf dem linken Bein, bewegte sein rechtes Fußgelenk kreiselnd. Zuerst tat es stechend weh, dann wich der Schmerz in scharfes Ziehen. Wohl nur üble Zerrung, schlimmstenfalls verrenkt. Dumpf pochte Puls darin.
"Geht es? Können sie auftreten?" fragte der andere besorgt.
Eckart versuchte es. Nach einigen humpelnden Schritten zwar noch schmerzhaft, dürfte aber gehen. "Ich frage mich nur, wohin der Kerl so schnell verschwunden war. Als ich dorthin schaute, wo er zuvor noch stand, war er nicht mehr da. Deswegen dachte ich, es seien seine Schritte, als sie kamen, und brach in diesen Prügelanfall aus."
"Ich habe nicht viel erkennen können. Ich konnte nur schattenhafte Bewegungen sehen und ihren Aufschrei hören. Um Genaueres zu sehen, ist es viel zu dunkel, außerdem war ich eine ganze Ecke entfernt. Der Kerl hat sich wahrscheinlich zwischen die abgestellten Autos geduckt und ist dann durch die Büsche abgehauen, nachdem er mich kommen hörte. Dieses verfluchte lichtscheue Gesindel! Hätte ich den erwischt, würden ihm nicht nur ein paar Zähne fehlen", erklärte er grimmig.
Eckart glaubte ihm gern. "Zum Glück gibt es ja noch aufmerksame und hilfsbereite Menschen wie sie."
"Ich versuche mein bestes", gab der junge Mann bescheiden zurück. "Meinen sie, dass sie mit dem Fuß noch richtig Auto fahren können? Wenn sie möchten, dann fahre ich für sie."
"Das ist wirklich sehr liebenswürdig von ihnen, aber sie haben mir schon genug geholfen. Es ist mir ein wenig peinlich, so viel Hilfsbereitschaft auszunützen. Sollte es nicht gehen, dann nehme ich eben ein Taxi", dankte Eckart.
"Machen sie sich keine Gedanken darüber. Ich habe Zeit, und es wartet jetzt auch niemand mit dem Abendessen auf mich. Müsste sowieso mit der U-Bahn fahren. Mein eigenes Auto steht Zuhause."
"Wenn ich sie damit nicht ausnütze...? - Ach, übrigens, ich heiße Umgelter, Eckart Umgelter! Nennen sie mich getrost beim Vornamen."
"Horst Marguleit", stellte der Wachmann sich vor. "Nein, Eckart, ich würde mich nicht ausgenutzt fühlen, und mich kann man auch ruhig mit Vornamen ansprechen."
"Ich freue mich sehr, sie kennen gelernt zu haben, Horst. Bevor ich aber ins Auto steige, muss ich mich ein wenig säubern." Eckart wies zum fernabliegenden Geschäftsgebäude.
"Wir könnten gegenüber auf der andere Straßenseite in eine kleine Bar gehen", schlug Horst Marguleit vor. "Das ist bestimmt ein viel kürzerer Weg. Außerdem glaube ich, dass ihnen eine kleine Alkoholzufuhr gut tun würde. Ihr seelisches Gleichgewicht scheint noch ein bisschen verrutscht." Jungenhaftes Lachen und gewinnendes Grinsen, das selbst im Dunkel strahlte.
"Gute Idee, Horst", meinte Eckart und nahm den Aktenkoffer entgegen. "Wenn sie gestatten und meine Schritte ein bisschen überwachen, lade ich sie herzlich gerne ein."
"Nichts dagegen", brummte der Angesprochene, nahm ihn vorsichtshalber am Arm.
Gemeinsam matschigen Parkplatz verlassen, glatte Straße überquert. - Erstaunlich kleine Bar, aber anheimelnd. Obgleich eigenen Büroräumen nicht übermäßig entfernt, bemerkte Eckart sie noch nie bewusst. Horst Marguleit schien hier gut bekannt. Jedenfalls begrüßte der Barmann ihn mit Vornamen.
Eckart suchte zuerst Wasch- und Toilettenräume auf, reinigte Kleidung und Aktenkoffer leidlich mit vorgefundenen Zellstoffhandtüchern. Leise summte das Kreiselspielzeug im Behältnis. Unbedingt Hände waschen nach unfreiwilliger ,Schneematschschlacht'! Mantel über Arm und Koffer in Gastraum zurück. Sein rechter Fuß schien einigermaßen in Ordnung. Glücklicherweise weniger ernster Sturz als befürchtet. Allerdings schmerzte das gebeutelte Gelenk gehörig. Horst Marguleit saß an einem der wenigen kleinen Tische, darauf zwei monströse Cognacschwenker. Eckart nahm erstaunt Platz.
"Ich habe mir erlaubt, mein Lieblingsgesöff zu bestellen", verkündete Horst. "Und auch gleich für dich dasselbe. Kann ich dir empfehlen. Spanischer Weinbrand. Tolles Zeug! - Wir können uns doch duzen, oder?"